Carolyn Ives Gilman: "Dark Orbit"
Gebundene Ausgabe, 303 Seiten, Tor Books 2015
For others, time passed. For a Waster, it was always just now. Fraglos eines der Highlights in "Dark Orbit", dem jüngsten Roman Carolyn Ives Gilmans, ist das Anfangskapitel, in dem die US-Autorin die schönste Beschreibung eines nonlinearen Lebensstils seit Joe Haldemans "Der ewige Krieg" abliefert.
Ein Leben außerhalb der Zeit
Am Beamen liegt's, das dann halt doch nicht so einfach abläuft wie bei "Star Trek" (bzw. den Stepperscheiben von Larry Niven oder den Transmittern von "Perry Rhodan"). Zum einen sind sich die interstellar Reisenden, also die Wasters, in "Dark Orbit" sehr bewusst, dass sie nicht körperlich, sondern nur als Informationspakete verschickt und am Zielort ganz neu erschaffen werden. Sara Callicot, die Hauptfigur mit Hindu-Hintergrund, fühlt jede solche "Wiedergeburt" in ihren reduplizierten Knochen.
Wiederholt seine Moleküle in der halben Galaxis zu verstreuen wäre alleine schon Grund genug, sich die Frage zu stellen, was das Wort "Ich" genau bedeutet. Die eigentliche Crux ist aber die Reisegeschwindigkeit. In Gilmans Romanwelt hat Teilchenverschränkung zwar Kommunikation ohne Zeitverlust ermöglicht – aber nur für vergleichsweise geringe Infomengen. Das gewaltige Datenpaket eines vollständigen Menschen kann nur mit Lichtgeschwindigkeit verschickt werden. Was angesichts der enormen Entfernungen zwischen den Welten bedeutet, dass die Wasters stets als lebende Anachronismen am Zielort ankommen.
Im günstigsten Fall werden sie nur schief angesehen, weil sie veraltete Mode tragen. Schwerer wiegt da schon, dass sie sich immer wieder mit veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen vertraut machen müssen (an dieser Stelle setzt Gilman einige witzige Spitzen gegen die waffen- und überwachungsverliebten USA unserer Tage). Und natürlich verlieren die Wasters nach und nach alle Angehörigen, für die sich die Uhr weitergedreht hat, während sie selbst zwischen den Sternen auf Lichtgeschwindigkeit eingefroren waren. Wasters leben einsam – trotzdem würde Sara nie mit einem Plant (so die Bezeichnung für diejenigen, die ihr Leben lang auf ihrem Heimatplaneten bleiben) tauschen. Und daran ändert nicht einmal der Umstand etwas, dass jedes Beamen letztlich auch einen Sprung ins Ungewisse bedeutet: Schließlich muss man immer darauf vertrauen, dass am zukünftigen Zielort jemand sein wird, der noch die benötigte Empfangstechnologie hat ...
Die Ereignisse kommen ins Rollen
Sara ist noch kaum auf ihrer Heimatwelt Capella Two angekommen, da wird sie von einem alten (und gealterten) Bekannten auch schon wieder auf die Reise geschickt. Am Rande des bekannten Kosmos hat ein uraltes robotisches Erkundungsschiff einen potenziell bewohnbaren Planeten aufgespürt. Und das in einem Sternsystem voller Gravitationsanomalien, weshalb man dort eine Ballung von Dunkler Materie vermutet. Was nebenbei für interessante Spekulationen genützt wird, dass nicht Materie Gravitation bewirkt, sondern dass im Gegenteil die Schwerkraft für sich existiere und Materie sich nachträglich dort ansammle, wo sich die Gravitation ballt.
Sara wird aber nicht nur in ihrer Funktion als Exoethnologin ins ferne Iris-System gebeamt. Sie soll auch – streng vertraulich – auf ein anderes Expeditionsmitglied aufpassen: die adelige Thora Lassiter, die für einen diplomatischen Eklat gesorgt hatte, als sie auf einem rückständigen Planeten von einer Art Geisteskrankheit befallen wurde und ungewollt einen Bürgerkrieg auslöste. Dass gleich nach dem Aufwachen an Bord des Pionierschiffs in der Kabine neben Thora eine geköpfte Leiche gefunden wird, macht Saras Aufpasserrolle nicht gerade einfacher.
Eine Frage der Kultur
Auf dem Buchcover streut niemand Geringeres als Ursula K. Le Guin der Autorin Rosen. Was durchaus passt, denn mit ihrer "Twenty Planets"-Reihe hat Gilman ein literarisches Universum geschaffen, das Le Guins "Hainish"-Zyklus recht ähnlich ist. Wir bewegen uns in einem kleinen von Menschenabkömmlingen geschaffenen Sternenreich, bei dem es vor allem auf die kulturellen Unterschiede zwischen den einzelnen Planetenbevölkerungen ankommt. Reizvoll ist in "Dark Orbit" etwa die brisante Chemie zwischen Sara und dem Sicherheitschef der Expedition, Dagan Atlabatlow. Sie entstammt einer Kultur, in der man auf Autoritäten pfeift – er kommt von einem Planeten, auf dem man glaubt, dass die innigste Beziehung zwischen Jäger und (menschlicher) Beute besteht.
Auf Iris stoßen sie nun auf eine ganz andere Kultur, die von der lange zurückliegenden Diaspora der Menschheit übriggeblieben ist. Diese Menschen leben in ewigem Dunkel. Und obwohl ihre Augen rein technisch funktionieren würden, orientieren sie sich ausschließlich über Gehör, Gerüche und Berührungen. Plus etwas esoterischeren Möglichkeiten, wie sich noch zeigen wird. In den 70ern hätte man "Dark Orbit" schlicht als Science Fantasy bezeichnet – heute braucht man ja bloß den Quantenzauberstab schwingen, schon lässt sich alles irgendwie verwissenschaftlichen.
Thora, eine "Sensualistin", die an Wahrnehmungsmöglichkeiten außerhalb bestehender Schubladen glaubt, lässt sich bereitwillig auf die neue Kultur ein. Parallel dazu versuchen die übrigen Expeditionsmitglieder, dem indigenen Mädchen Moth das Sehen beizubringen. Mit Folgen, wie man sie aus der Medizin von lebenslang blinden Menschen, deren Gesichtssinn dann doch aktiviert wird, kennt: Wer nie Konzepte wie Räumlichkeit oder Perspektive erlernt hat, empfindet die Flut an neuen Eindrücken nicht bereichernd, sondern hoffnungslos desorientierend. Die parallel-gegenläufige Entwicklung zwischen Thora und Moth bestimmt die Struktur von "Dark Orbit", und unterm Hintern aller Beteiligten dräuen die zunehmenden Gravitationsanomalien im Iris-System.
Ein paar Abstriche
Wie man sieht, ist das Konzept des Romans perfekt durchdacht. In der Ausführung gibt es allerdings ein paar Abstriche vom Optimum:
+ Nach der Einführung von Iris als Kristallwelt voller Spiegellabyrinthe, fraktaler Räume und geometrischer Anomalien samt dazupassendem einheimischem Leben sind die im Dunkeln herumkrebsenden Höhlenmenschen dann doch ein wenig ... wenig.
+ Da diese aus einer früheren Expansionswelle der Menschheit stammen, sprechen sie auch eine altertümliche Version der universellen Standardsprache. Historikerin Gilman setzt dies in Form von Shakespeare-Englisch um, was folgerichtig sein mag, auf mich zumindest aber unfreiwillig komisch wirkt ("Harken thou, Torobes!" Moth said dramatically, so that her voice echoed. "Harken, for I have been to a wondrous place.")
+ Ein ganz banaler Faktor: Sara und Thora teilen sich das Buch halbe-halbe. Da Thoras Kapitel rein formal ein aufgezeichnetes Audio-Protokoll sind, hat Gilman diese Passagen kursiv gesetzt. Aber ehrlich – über aberdutzende Seiten hinweg kursiv lesen, das nervt mit der Zeit.
+ Am wichtigsten aber: der Plot-Driver. In einem gar nicht so unähnlichen Culture-Clash-Szenario fand Joan Slonczewski für "A Door Into Ocean" einen hervorragenden Handlungsmotor in einem heraufziehenden Krieg. Auf dem Papier übernehmen die sich verschlimmernden Gravitationsanomalien diese Rolle bei Gilman – würde sie zwischendurch nicht lange drauf vergessen, was zu einem gewissen Absacker im mittleren Teil des Romans führt.
Lektüre lohnt trotzdem
Ansonsten wie gesagt: ein hervorragendes Buch voller faszinierender Ideen. Und obwohl die "Twenty Planets"-Reihe aus jeweils abgeschlossenen Romanen besteht, wäre hier eine Fortsetzung denkbar und sogar wünschenswert.