Der "Augustin" hat sein Aussehen verändert, nicht aber seinen Charakter: Robert Sommer, Gründer und Chefredakteur der Zeitung.

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Zehn Schilling kostete im Oktober 1995 die erste Ausgabe des "Augustin". Nach einigen Jahren wurde die Erscheinungsweise von monatlich auf 14-tägig umgestellt.

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Wien – Keine reine Sozialromantik, wie vielleicht manche vermuten, nein, eine "egoistische Intention" liegt dem Augustin zugrunde: "Ich habe damals prekär gelebt und wollte mir einen Job besorgen, mit dem ich mich identifizieren kann", erzählt Robert Sommer, 64-jähriger Initiator und Chefredakteur der Zeitung: "Gemeinsam mit Kollegen, die auch in so einer beschissenen Lage waren", gründete er 1995 die Wiener Straßenzeitung. Vorbild für den Augustin waren Blätter in London, Paris und München.

Charmant nach wie vor als "die erste österreichische Boulevardzeitung" tituliert, beschäftigt der Augustin derzeit 14 Angestellte und rund 450 Verkäufer. Den Inhalt steuert ein Pool von 50 Journalisten bei, ein Teil kommt von Obdachlosen selbst. "Das konnten wir uns damals nicht im Traum vorstellen", bilanziert Sommer.

Gleiche Bezahlung für Fixe

Ob Journalisten, Sozialarbeiter, Grafiker oder Reinigungskräfte: alle Angestellten erhalten den gleichen Stundenlohn. Entscheidungen müssten basisdemokratisch getroffen werden, erzählt Sommer vom "urkommunistischen Experiment", während es in der Augustin-Zentrale in der Reinprechtsdorfer Straße 31 im fünften Bezirk im Zehn-Minuten-Takt klingelt. Zahlreiche Verkäufer kommen, um sich mit Zeitungen einzudecken.

Mit derzeit rund 450 Beschäftigten sei der Plafond erreicht. Vor zwei Jahren wurde ein Aufnahmestopp verhängt, obwohl sich täglich Anwärter melden würden. Mit 25.000 verkauften Heften pro 14-tägiger Ausgabe sei der Markt gesättigt. Vor ein paar Jahren waren es noch um 10.000 mehr.

Gratiszeitungen und der Medienwandel hätten zu dem Rückgang geführt, sagt Sommer: Statt zum Augustin würden viele jetzt zu Heute, Österreich oder ihrem Smartphone greifen. Das ist aber nur ein Teil der Wahrheit, der zweite Grund sei der Imageverlust, mit dem die Zeitung zu kämpfen habe. Sommer berichtet von Bettlern, die sich mit einem Exemplar in der Hand als Augustin-Verkäufer tarnten. "Sie geben die Zeitung aber gar nicht her, wenn sie das Geld bekommen". Einige reisen dafür aus der Slowakei nach Wien, übernachten im Auto, um nach ein paar Tagen mit den Erlösen retour zu fahren. "Für uns ist das eine paradoxe Situation", bedauert Sommer, "wir sind die Letzten, die sich aufregen, andererseits fügen sie uns einen Imageschaden zu".

Keine Subventionen

Heute, 20 Jahre nach der Gründung, ist der Augustin von einer Straßenzeitung zu einem Medienhaus avanciert. Radio Augustin heißt eine eigene Sendung auf Radio Orange, auf Okto TV läuft Augustin TV. Weitere Projekte sind der Chor Stimmgewitter und ein Fußball- und Tischtennisverein. Und das alles ohne Subventionen. "Wir bekommen nichts", sagt Sommer nicht ohne Stolz. Keine lästigen Einreichungen, kein Schnüffeln der Sozialämter: "Wir wollten einen Freiraum für jene schaffen, die keine Papiere haben."

Frei sein möchte der Augustin auch von Vereinnahmungsversuchen. Inserate von politischen Parteien werden nicht genommen. "Wir gelten zwar als linksradikale Zeitung, halten aber Äquidistanz zu allen Parteien." Ausgerechnet die FPÖ wollte vor vielen Jahren als erste Partei eine Anzeige schalten. "Das haben wir natürlich abgelehnt", sagt Sommer. Noch schärfen möchte er das journalistische Profil der Zeitung. Relevanter werden, lautet die Devise. "Wir halten uns nicht an Aktualitätskriterien des üblichen Journalismus." Jede Ausgabe soll "verblüffend" sein.

Neben Erlösen aus Verkauf und Inseraten profitiert der Verein von privaten Sponsoren. Mit dem Sinken der Auflage gab es vor ein paar Jahren ein Defizit von 100.000 Euro. Kompensiert werden konnte es mit einem "Liebhaber"-System. Gesucht wurden 333 Personen, die den Augustin mit 25 Euro pro Monat unterstützen. Gefunden wurden weit mehr. Manche davon stehen auf der Warteliste.

1,25 Euro Gewinn pro Exemplar

Die Zeitungen erwerben Augustin-Verkäufer um 1,25 Euro, um sie dann auf der Straße um 2,50 zu verkaufen. Im Schnitt sind es 100 bis 200 Exemplare pro Ausgabe. Reich wird man damit also nicht, aber das ist nicht die Idee hinter dem Augustin. Es geht um Leben und Überleben. Weil es vielen an Beschäftigungsmöglichkeiten fehle, sei der Verkauf auch eine Präventionsmaßnahme, um ein Abdriften in die Kleinkriminalität zu verhindern. Wichtig sei Wertschätzung: "Wir sind ein Modell, wie Ausgegrenzte aus der Leistungsgesellschaft eine sinnvolle Tätigkeit machen können."

Die Verkäufer sind das Rückgrat des Mediums, sie setzen sich aus drei Gruppen zusammen. Ein Drittel sind obdachlose oder langzeitarbeitslose Österreicher, die am realen Arbeitsmarkt keine Chance hätten. Nicht wenige sind Alkoholiker: "Bei uns können sie den Rhythmus ihrer Arbeit selbst bestimmen." Den Rest teilen sich afrikanische Asylwerber und Armutspendler aus Osteuropa. "Wir wollen diese Buntheit." Die besten Verkäufer seien Afrikaner. "Trotz der Vorbehalte, die es in Wien gegen Schwarze gibt", so Sommer, "sie sind höflich und beliebt".

Die Zusammensetzung der Verkäufer sei ein Spiegelbild der Gesellschaft. In der Gründungszeit hätten "Wiener Originale" das Image der Zeitung geprägt. Diese selbstbewussten, stolzen Clochards gebe es heute nicht mehr. Gestorben. "Das Straßenleben ruiniert den Körper."

Auflagen und Regeln

Jeder neue Verkäufer wird zuerst eingeschult und dann mit einem Augustin-Ausweis ausgestattet. Beantragt werden kann ein "Platzrecht". Es sichert dem Verkäufer das Vorrecht an einem bestimmten Ort stehen zu dürfen. Ein großer Vorteil bei stark frequentierten Stellen. Neben Privilegien gebe es für Verkäufer aber auch Regeln. Ein Nein sei zu akzeptieren. Kommt es zu Beschwerden, weil etwa jemand betrunken ist oder seine Ware an Subverkäufer weiterreicht, können theoretisch Sanktionen wie ein temporäres Verkaufsverbot verhängt werden. Das sei aber die Ausnahme und nicht die Regel, betont Sommer, denn beim Augustin gilt der Grundsatz: "Bist du einmal beim Augustin, bist du immer beim Augustin." Das gilt auch für Robert Sommer. Er geht Ende nächsten Jahres in Pension. (Oliver Mark, 15.10.2015)