"Krankheit und der Umgang damit werden sehr stark von der Gesellschaft geprägt", sagt Anthropologin Kathryn E. Bouskill.

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STANDARD: Sie sind Anthropologin, ihr Spezialgebiet ist Medizin. Womit beschäftigen Sie sich genau?

Bouskill: Mit der Wahrnehmung von Krankheiten und die Frage, wie eine Gesellschaft damit umgeht.

STANDARD: Wie definieren Sie Krankheit?

Bouskill: Es ist wichtig, Krankheit von Kranksein zu unterscheiden. Es gibt beide Zustände und beides existiert parallel. Krankheit ist eine Störung des biomedizinisch definierten Normalzustandes. Kranksein wiederum ist ein sehr subjektives Erlebnis. Da geht es um die Identität von Kranken, die Wahrnehmung von Krankheit. Kranksein ist sozusagen das subjektive Erlebnis einer Erkrankung.

STANDARD: Krankheiten sind von Anbeginn ein Bestandteil des Lebens. Wie unterscheiden sie sich?

Bouskill: Solange Krankheiten vorübergehend sind oder geheilt werden können, sind sie für den einzelnen kein Problem, eine Herausforderung ist, wenn das nicht der Fall ist.

STANDARD: Aber es gibt viele Erkrankungen, die nicht heilbar sind. Warum ist die öffentliche Aufmerksamkeit für Krebs so hoch?

Bouskill: Wer krank ist, versucht zu verstehen, warum. Es gibt chronische Erkrankungen, die relativ einfach zu erfassen sind. Statistisch betrachtet sterben mehr Menschen an Herz-Kreislauferkrankungen als an Krebs. Trotzdem scheint das weniger beängstigend, denn die Menschen verstehen es besser. Das Herz ist die Pumpe, die Arterien sind die Rohre und wenn die Rohre verstopft sind, implodiert das System.

Krebs ist deshalb so beängstigend, weil sich die Erkrankung oft solchen rationalen Erklärungsmustern entzieht. Nicht einmal Mediziner wissen, was genau bei Krebs im Körper passiert. Je mehr sich eine Erkrankung rationalen Erklärungsmustern entzieht, umso stärker suchen die Menschen ihre Erklärungen selbst, reimen sich Sachen aus ihrem eigenen Kosmos zusammen.

STANDARD: Eine normale Reaktion also?

Bouskill: Was den Krebs betrifft schon. Denn Krebs ist ja auch nicht etwas, an dem man von heute auf morgen stirbt so wie am Herzinfarkt. Krebs entwickelt sich unbemerkt, ist aber oft nicht zu stoppen. Viele, die davon betroffen ist, beginnen darüber nachzudenken. Interessant von einer Public Health-Perspektive ist, wenn die Erkrankung auch öffentlich zu einem dominierenden Thema wird und ein falscher Eindruck über die Verhältnismäßigkeit der Erkrankung entsteht. Nach wie vor gibt es viel mehr gesunde Menschen ohne Krebs als mit.

STANDARD: Dann müssten Sie Charity-Kampagnen wie Pink Ribbon gegenüber eher kritisch eingestellt sein?

Bouskill: Pink Ribbon ist in Amerika entstanden, um Brustkrebs einem gesellschaftlichen Tabu zu entreißen. Seit 1992 ist im Oktober das ganze Land in Pink gehüllt. Es ist die amerikanische Art auszudrücken, dass man über ein Thema öffentlich reden will und das funktioniert auch richtig gut. Mich hat vor allem die Globalisierung der Pink Ribbon-Kampagne interessiert.

Denn klar, Pink Ribbon ist schon eine eigenartige amerikanische Mischung aus Pflicht und Konsumismus. Ich wollte wissen, wie dieses Konzept außerhalb Amerikas angenommen wird. Ob "one size fits all" auch in Zusammenhang mit Kampagnen im Bereich von Gesundheit und Krankheit funktioniert.

STANDARD: Und?

Bouskill: Pink Ribbon ist in den USA entstanden und dort gewachsen. Es war früher so etwas wie ein Basisbewegung. In Europa wurden die Kampagnen den Ländern quasi übergestülpt. Ich kam 2008 nach Wien. 2012 bekam ich über die ABCSG-Studiengruppe und Fullbright die Möglichkeit, mit Brustkrebspatientinnen Interviews zu führen. Brustkrebs ist anders als in den USA hier noch eher ein Tabu.

STANDARD: Ist es eine Frage der Mentalität?

Bouskill: Krankheit und der Umgang damit werden sehr stark von der Gesellschaft geprägt. Wer heute in den USA die Diagnose Brustkrebs bekommt, fühlt sich oft automatisch gezwungen, so eine Art Heldenmentalität anzunehmen und mit viel Optimismus und Zuversicht "in den Kampf zu gehen".

In der Folge sehen sich Frauen als Survivor, also als Überlebende. Das ist aber ein zweischneidiges Schwert. Pink Ribbon hat Brustkrebs zwar enttabuisiert, doch gleichzeitig ist es doch unfair zu erwarten, dass Frauen ständig optimistisch und kämpferisch sein sollen. Brustkrebs ist nicht fröhlich, und überhaupt nicht "pink". Brustkrebspatientinnen in Österreich sind nicht mit dem Bild, eine Heldin sein zu müssen, konfrontiert.

STANDARD: Sondern?

Bouskill: Brustkrebs ist etwas sehr Privates, so etwas wie eine Familienangelegenheit und sicherlich kein öffentliches Thema. Besonders erstaunlich für mich war, dass 50 Prozent der Frauen, die ich befragt habe, dachten, dass ihre Erkrankung das Ergebnis einer schwierigen emotionalen Phase ist, dass Krebs also eine Folge von Stress oder von einem Trauma ist. Ich hörte Sätze wie "Mein Mann hat mich betrogen, das hat mich krank gemacht". Auch die Metapher, etwas in sich hineingefressen zu haben, kam oft.

STANDARD: Welche Schlüsse ziehen sie daraus?

Bouskill: Dass Brustkrebs in Österreich eigentlich immer noch ein Tabuthema ist, zu wenig öffentlich diskutiert wird und Frauen sich teilweise stigmatisiert fühlen. Dieses Phänomen ergibt sich aus den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Menschen denken, Stress mache Krebs. Doch es gibt keine verlässliche wissenschaftliche Evidenz, dass es hier einen kausalen Zusammenhang gibt. Trotzdem ist es in den Köpfen verankert.

STANDARD: Ihre Erklärung?

Bouskill: Das bereits erwähnte Bedürfnis der Menschen, Dinge zu verstehen. Wenn sogar die Wissenschaft keine Erklärung hat, ist das Feld frei für persönliche Wahrnehmungen.

STANDARD: Was denken Amerikanerinnen?

Bouskill: Dass Brustkrebs mit emotionalem Stress oder Trauma in Zusammenhang stehen könnte, habe ich nicht wirklich gehört. Dafür gibt es öfter als in Europa religiöse Erklärungsversuche. Krebs wird als von Gott geschickte Herausforderung betrachtet.

STANDARD: Gibt es auch Differenzen, was die Wahrnehmung von Behandlung betrifft?

Bouskill: In den USA ist es ein Weg, die innere Stärke zu beweisen. In Österreich nehmen die Frauen die Erkrankung oft zum Anlass, Dinge im Leben zu verändern, die sie stören. Interessant in Österreich: Die Frauen denken zwar, Stress wäre die Ursache der Erkrankung, doch behandelt wird dann nur mit Operationen, Bestrahlung und Chemotherapie. Ich denke, dass die Betrachtung der kulturellen Hintergründe von Erkrankungen ein Aspekt ist, der vernachlässigt ist.

STANDARD: Mit welchen Strategien stellen sich Österreicherinnen mit Brustkrebs der Behandlung?

Bouskill: In Österreich hat man es lieber, wenn Frauen diese Erkrankung einfach passiv ertragen. Also sie schnell hinter sich bringen und dann einfach weitermachen. Es gab schon auch Frauen, die sich gerne engagieren würden, soldarisch mit anderen sein wollen, ihre Erfahrungen weitergeben wollen. Aber dafür fehlt eine entsprechende Plattform.

STANDARD: Was ist mit der Krebshilfe?

Bouskill: Das ist eine gute Einrichtung und wichtig, dass es sie gibt. Aber Frauen brauchen eine Plattform, auf der sie sich treffen und einen Dialog miteinander beginnen können. Auch in Kampagnen sollte es mehr darum gehen, dass Frauen ihre Wünsche und Bedürfnisse äußern können. Miteinander zu reden, sich nicht alleine fühlen kann erstaunlich positive Effekte haben.

STANDARD: Welche?

Bouskill: Wir konnten beobachten, dass Brustkrebspatientinnen unter sich eigentlich gar nicht so viel über ihre Erkrankung sprechen. Denn jede weiß, was die andere durchmacht. Da gibt es keinen Bedarf, sich zu erklären. Wenn das wegfällt, ist es scheinbar leicht aus der Patientinnenrolle zu schlüpfen und zu diejenigen zu werden, die man vor der Diagnose war, nämlich Frau, Mutter, Managerin, Sekretärin, Lehrerin – was auch immer. Das heißt: Frauen erobern sich ihre frühere Identität zurück. Sich nicht von der Erkrankung vereinnahmen zu lassen, finde ich wichtig. Das gelingt in informellen Gruppen offensichtlich ganz gut.

STANDARD: Gibt es aus Ihrer Sicht so etwas wie einen "richtigen" Umgang mit der Erkrankung?

Bouskill: Nein, Verallgemeinerungen sind in diesem Bereich sehr schwierig, weil der Umgang mit der Erkrankung von zu vielen verschiedenen Komponenten abhängig ist und auch Charaktersache ist. Man kann aber vielleicht schon sagen, dass der Umgang mit Krebs eine Art Prozess ist.

Wenn Brustkrebspatientinnen akzeptieren, dass es gute und schlechte Tage gibt, ist das hilfreich. Eine gute Sache ist, wenn sich Frauen Raum geben, auch einen schlechten Tag haben zu dürfen. Auf einer persönlichen Ebene ist es unvermeidlich, mit den eigenen Ängsten umgehen zu lernen. Auch nach einer Behandlung, weil es ja die Möglichkeit eines Rückfalles gibt. Das ist in den USA eine große Herausforderung. Wenn Survivors scheitern, dann passt die Farbe pink nicht mehr. (Karin Pollack, 24.10.2015)