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Das vorläufige Ende des Roten Wien im Februar 1934, als die Vaterländische Front die Macht übernahm und das international beachtete linke Experiment gewaltsam umfärbte.

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Janek Wasserman, "Black Vienna. The Radical Right in the Red City". € 42,94 / 264 Seiten. Cornell University Press, Ithaca 2014

Cover: Cornell University Press

Wien – Am 11. Oktober 2015 ging das Rote Wien ein weiteres Mal in Verlängerung. Die SPÖ erreichte bei den Gemeinderatswahlen zwar "nur" mehr knapp 40 Prozent. Die linke Bastion wurde aber erfolgreich gehalten. Damit wird Österreichs Bundeshauptstadt seit 1919 – mit Ausnahme der Jahre 1934 bis 1945 – durchgehend von einem sozialdemokratischen Bürgermeister regiert.

In der Zwischenkriegszeit erzielten die Sozialdemokraten bei den Kommunalwahlen freilich regelmäßig weit mehr als die Hälfte der Stimmen. Die linke Stadtregierung nützte diese breite Unterstützung für ein ambitioniertes Programm und nahm umfangreiche Reformen in der Sozial-, Gesundheits- und Bildungspolitik in Angriff. Das Rote Wien wurde so zu einer Art sozialdemokratischem Großexperiment, das international viel Beachtung erhielt.

Faszinosum Rotes Wien

Wie so viele andere vor ihm war auch der junge US-amerikanische Geschichte- und Germanistik-Student Janek Wasserman vom Wien rund um 1900 und dem der Zwischenkriegszeit angetan. "Alle meine Lieblingsautoren standen auf der Seite des Roten Wien", erinnert sich der 35-jährige Historiker, der ursprünglich eine Dissertation über dieses "Labor der Moderne" schreiben wollte, über das auch in den USA bereits einige Studien veröffentlicht worden waren.

Doch während eines Stipendiums in Wien 2008 las er nicht nur in den Schriften der Vordenker des Roten Wien, die auch noch heute bekannt sind wie der Anatom Julius Tandler, das Psychologenehepaar Bühler, die austromarxistischen Intellektuellen wie Otto Bauer oder die Philosophen des Wiener Kreises. Wasserman stieß bei seiner Lektüre in der Nationalbibliothek auch noch auf ganz andere Intellektuelle wie den Kreis um den rechten Ökonomen Othmar Spann oder Zeitschriften wie die rechtskatholische "Schönere Zukunft" von Joseph Eberle. "Plötzlich wurde mir klar, wie einflussreich diese Leute in der Zwischenkriegszeit waren, auch wenn sie heute fast vergessen sind", sagt Wasserman, der heute Assistenzprofessor für Geschichte an der Universität Alabama ist und am Freitag einen Vortrag in Wien hält.

Also beschloss er, sich diesen rechtskonservativen, oft faschistischen Denkern und ihren Zirkeln zu widmen, die an Hochschulen dominant waren und mit ihren Zeitschriften ein zum Teil sehr viel größeres Publikum erreichten als die Exponenten des Roten Wien. Herausgekommen ist eine Dissertation unter dem Titel "Black Vienna", mit der Wasserman 2010 an der Washington University in St. Louis (US-Bundesstaat Missouri) promovierte und die im vergangenen Jahr in leicht gekürzter Version als Buch – bisher leider nur auf Englisch – erschien.

In seiner Synthese von zum Teil schon bekannten Einzelstudien gelingt ihm ein ziemlich neuer Blick auf das Wien der Zwischenkriegszeit, und er räumt zugleich auch mit einigen überkommenen Behauptungen auf, so etwa mit der These von den drei fein säuberlich getrennten politischen Lagern, die sich in ihrer bekanntesten Fassung dem Historiker Adam Wandruszka verdankt.

Große Überschneidungen

Der konservative Historiker teilte in seinem Buch aus dem Jahr 1954 Österreichs politische Landschaft in das christlichsoziale, das sozialdemokratische und das deutschnationale Lager, die sich seit der Ersten Republik gegenübergestanden seien. "Für die Zwischenkriegszeit lässt sich freilich zeigen, dass es zwischen den intellektuellen Kreisen und Zeitschriften der Deutschnationalen und der Christlichsozialen weitgehende Überschneidungen gibt", so Wasserman.

Tatsächlich sind sich viele der rechten und katholischen Ideologen in den meisten Punkten einig gewesen: in ihrer Ablehnung der Demokratie, des Sozialismus und des Liberalismus und ihrem Hass auf die Juden. "Zum Teil sind diese faschistischen Naheverhältnisse sogar nach 1934 nicht verschwunden und erst nach dem ,Anschluss' aufgebrochen." Das zeigt Wasserman unter anderem an den publizistischen Reaktionen auf die Ermordung des Philosophen Moritz Schlick im Juni 1936, unmittelbar vor dem Juli-Abkommen zwischen Schuschnigg und Hitler.

Vieles, was Wasserman beschreibt, ist zum Teil aus Einzelstudien bekannt. Und teils fehlt in "Black Vienna" einiges, was seine Hauptthesen noch weiter gestützt hätte – wie etwa der Deutsche Klub, das wohl wichtigste Sammelbecken für die deutschnationale, antisemitische und katholische Intelligenz der Zwischenkriegszeit in Wien. Dennoch ist Wasserman auf nur etwas mehr als 200 glänzend geschriebenen Seiten ein echter Augenöffner gelungen. Und man fragt sich, warum eine so erhellende Synthese an einer US-Uni als Dissertation eingereicht wurde und nicht an einer heimischen Universität.

Wasserman liefert im Gespräch immerhin auch eine plausible Erklärung nach, warum dieses mächtige "Schwarze Wien" nach 1945 so lange vergessen werden konnte: "Die meisten Intellektuellen des Roten Wien haben spätestens 1938 die Stadt verlassen und kamen nicht zurück, um die Geschichte der ideologischen Konflikte vor 1938 zu erzählen. Und die Wiederherstellung der österreichischen Unis nach 1945 geschah in erster Linie durch Figuren aus dem rechtskonservativen Milieu der Zwischenkriegszeit." Dass diese Leute keine Notwendigkeit sahen, sich kritisch damit zu befassen, was vor 1938 war, versteht sich von selbst.

Zwischen Rot und Schwarz

Es gab allerdings auch eine Gruppe von Intellektuellen, die im Wien der Zwischenkriegszeit zwischen dem linken und dem vereinten rechten und katholischen Lager standen: die Nationalökonomen der sogenannten Österreichischen Schule, der Wassermans aktuelles Forschungsprojekt gewidmet ist. Als deren wichtigste Exponenten gelten heute Ludwig von Mises oder Friedrich August von Hayek, die in neoliberalen Kreisen und Denkfabriken nicht nur in den USA bis heute noch im Kurs stehen, was Wasserman als eine nachträgliche politische Indienstnahme sieht.

Die Ursprünge dieser einflussreichen Gruppe von Wirtschaftswissenschaftern reichen bis ins späte 19. Jahrhundert zurück. Damals formulierten Ökonomen wie Eugen Böhm von Bawerk, Friedrich von Wieser und Carl Menger bahnbrechende ökonomische Konzepte wie die Lehre vom Grenznutzen. Hatten diese drei Pioniere vor dem Ersten Weltkrieg noch Professuren an Universitäten, so mussten sich ihre nicht weniger einflussreichen Nachfolger mit außeruniversitären Anstellungen zufriedengeben.

Zentral war dabei das 1927 gegründete Österreichische Institut für Konjunkturforschung (heute: Wifo), das ab 1930 erheblich von der Rockefeller Foundation unterstützt wurde und an dem damals viele führende Vertreter der Österreichischen Schule arbeiteten – international bestens vernetzt, extrem interdisziplinär und hochinnovativ, aber eben zwischen dem Roten und dem Schwarzen Wien.

Spätestens 1938 waren die meisten von ihnen ausgewandert und machten in den USA "Austrian Economics" zu einem Exportschlager – für Wasserman eine Ironie der Geschichte: "Warum diese Ökonomen heute in den USA nach wie vor so einflussreich sind, liegt nicht zuletzt auch daran, dass sie im Wien der Zwischenkriegszeit keinen Einfluss hatten." (Klaus Taschwer, 29.10.2015)