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Proteste in Neu-Delhi gegen die aufflammende Gewalt im Land.

Foto: AP / Manish Swarup

"Sie umzingelten uns und drohten, mein Bein zu häuten", erzählte der Australier Matt Gordon geschockt der Zeitung The Hindu. Der 21-Jährige aß gerade mit seiner Freundin in Bangalore zu Mittag, als eine Gruppe Männer begann, ihn zu beschimpfen. Grund: Der Student hat eine Hindu-Göttin auf seinem Schienbein tätowiert, was die Männer als religiösen Affront betrachteten. Polizisten brachten Gordon auf die Wache und zwangen ihn, sich schriftlich zu entschuldigen. "Dies ist Indien, und man kann nicht ein solches Tattoo auf dem Bein tragen", sagte der Polizist laut Gordon.

Der Vorfall ist einer der jüngsten in einer ganzen Serie von religiös motivierten Übergriffen, die das Klima im Land Gandhis vergiften. Bisher galt Indiens Toleranz als legendär, doch mittlerweile vergeht kaum noch ein Tag, an dem nicht Angriffe von Hindu-Fanatikern Schlagzeilen machen. Medien sprechen von einer "hate wave", einer "Welle des Hasses".

Durch Regierung ermutigt

Gegner von Premier Narendra Modi sehen ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Seit Modi und seine hindunationalistische Partei BJP vor 18 Monaten die Macht übernahmen, fühlen sich religiöse Eiferer ermutigt. Viele Fanatiker agieren im Dunstkreis der BJP oder sind, wie die Partei Shiv Sena in Mumbai, ihre Koalitionspartner. Sie sagen, Indien sei das Land der Hindus und Andersgläubige nur geduldete Gäste.

Wie aggressiv die Stimmung inzwischen ist, bekam auch Bollywood-Superstar Shah Rukh Khan, ein Muslim, zu spüren. Als er nun öffentlich die "wachsende Intoleranz" beklagte, diffamierten ihn Hindu-Scharfmacher als "Agenten Pakistans", einzelne BJP-Politiker verglichen ihn sogar mit einem Terroristen und riefen zum Boykott seiner Filme auf.

Vor allem den Status von Kühen, die die 80 Prozent Hindus unter den mehr als 1,2 Milliarden Indern als heilig ansehen, peitschen die Hindu-Hardliner zum tödlichen Politikum hoch. Immer mehr Bundesstaaten verbieten das Schlachten von Rindern, obwohl diese für viele Muslime eine wichtige Nahrungs- und Einkommensquelle sind. "Muslime dürfen weiter in diesem Land leben, aber nur wenn sie das Essen von Rindfleisch aufgeben", sagte Manohar Lal Khattar, BJP-Regierungschef von Haryana.

Lynchmob tötete Muslim

Die Hindu-Kaderschmiede RSS legte nach: "Sünder", die Kühe schlachteten, müssten getötet werden. Immer häufiger nehmen Hindu-Extremisten dies wörtlich. Erst am Mittwoch wurde im Nordosten des Landes ein 55-Jähriger erschlagen, da ihn eine Gruppe Hindus fälschlicherweise des Kuhdiebstahls verdächtigt hatte.

Ende September zerrte im Dorf Bisada in Uttar Pradesh, nur knapp 60 Kilometer vor den Toren der Hauptstadt Neu-Delhi, ein Mob den 50-jährigen Muslim Mohammed Akhlaq aus seiner Hütte und lynchte ihn, weil ein Hindu-Priester ihn bezichtigt hatte, eine Kuh geschlachtet und gegessen zu haben. Es stellte sich später heraus, dass es Ziegenfleisch gewesen war.

Immer wieder attackieren Hindu-Radikale Fleischtransporte. "Sie töten uns und schwärzen unsere Gesichter", klagt Azam Khan, Minderheitenminister des Bundesstaates Uttar Pradesh, der selbst ein Muslim ist. "Wir wissen nicht, wohin und an wen wir uns wenden können."

Aus Protest gegen die wachsende Intoleranz gaben mehr als 40 bekannte Schriftsteller jüngst den renommierten Preis der staatsnahen Literaturakademie Sahitya zurück. Viele sehen wie die Autorin Nayantara Sahgal, eine Nichte von Indiens erstem Premierminister Jawaharlal Nehru, die "ureigene Idee Indiens" in Gefahr. (Christine Möllhoff, 6.11.2015)