Eine schwangere Polizistin, eine Leiche im Häcksler, ein Haufen skurriler Gestalten und viel, viel Schnee: Fast 20 Jahre ist es her, dass die Coen-Brüder "Fargo" in die Kinos brachten. 2014 nahm dann Noah Hawley einige der eingangs erwähnten Zutaten und schuf die gleichnamige Serie, deren zweite Staffel kurz vor dem Ende steht. Inhaltlich, atmosphärisch und visuell ist vor allem die erste Staffel mit dem filmischen Vorbild verbunden.

Wieso die Serie gelungen ist, warum die zweite Staffel besser als die erste ist und wieso die Macher geschickt vorgegangen sind, wird dieses Mal bei "Serienreif" diskutiert. Und: Wir reden hier über den Inhalt von Staffel eins und zwei, wer davon nichts wissen will, sollte lieber im Schnee spazieren gehen als hier weiterlesen. Unsere zentrale Frage diesmal: warum es eigentlich so super ist, wenn alle im Schnee sterben.

Julia Meyer: Weil's schön ausschaut.

Michaela Kampl: Diese weiße Landschaft ist der Kontrapunkt zur blutigen Geschichte. So viel dort auch passiert, die Bilder sind immer ruhig. Ganz super kontrastreich war das bei den beiden Gewalteskalationsszenen: In Staffel I zum Beispiel, als Molly angeschossen wird. Da ist dieser Schneesturm auf dem Höhepunkt, der alle nur schemenhaft in Schwarz und Weiß auftauchen lässt.

Daniela Rom: Bei "Fargo" weiß ich ja gar nicht, wo ich anfangen soll, so super ist es. Optisch ist es wirklich ein Augenschmaus, da bin ich ganz bei dir. Meine Lieblingsszene ist, wo die zwei Supergangster Lester kidnappen und ihn im See versenken wollen. Der Taube bohrt das Loch, während Lester den anderen umnietet und davonläuft. Man läuft als Zuseher mit der Kamera mit, und im Hintergrund bohrt der taube Schurke seelenruhig weiter ins Eis. Bis er sich einmal umdreht. Das ist ganz großes Kino!

Malvo (Billy Bob Thornton) ist böse im Schnee in Staffel I. Sehr böse. Außerordentlich böse.

Doris Priesching: In einem Ranking der besten ersten Szenen wäre "Fargo" ganz vorne: eine Straße, ringsum Schnee, Scheinwerfer, die näher kommen – und dann der Crash. Wobei genau genommen der Unsinn hier beginnt: Wenn ein Auto so explodiert, kommt eher keiner lebend heraus, schon gar nicht zwei, und das beinahe völlig ungeschoren. Und das Auto hat keinen Kratzer. Oder bin ich da zu pingelig?

Julia Meyer: Ein bisschen. Beziehungsweise finde ich, dass man an "Fargo" keinen Realitätsanspruch anlegen kann. Ich finde, dass das Ganze beinahe etwas Märchenhaftes hat. Das betrifft zwar vor allem die visuelle Gestaltung, und, ja, auch ich finde den Schnee unter anderem deswegen ganz toll. Aber auch die Figuren haben mitunter etwas Fantastisches. So schrullig und liebevoll genau die Personen auch bis in die kleinste Nebenrolle gezeichnet sein mögen, sie sind irgendwie irreal und klischeehaft gleichzeitig. Versteht ihr, was ich meine?

Daniela Rom: Ja, voll. Das macht gerade den Reiz aus, zumindest für mich. Gerade die erste Staffel ist eine komplexe Geschichte mit vielen Nebensträngen und vielen Details, aber im Grunde weiß man immer, wer der Gute und wer der Böse ist.

Michaela Kampl: Das wirklich Böseste an der ersten Staffel ist die Frisur von Oberbösewicht Lorne Malvo.

Daniela Rom: Und die orange Jacke von Lester.

Julia Meyer: Lester ist da am Anfang ein bisschen die Ausnahme. Den hätte ich eher auf die gute Seite gestellt. Er ist ja eingangs eine derart dämliche Figur, dass es peinlich ist zum Hinschauen. Er ist halt ein Depp, den man unterstützen möchte. Insofern ist Malvos Intervention geradezu eine Erleichterung. Allerdings geht die Wandlung Lesters vom unsicheren Dummi zum gewitzten Arschloch ein bisschen schnell. Aber es macht Spaß zuzusehen und ist gleichzeitig recht beklemmend. Colin Hanks ist übrigens der bessere Tom.

Daniela Rom: Bei der Besetzung von Martin Freeman als Lester Nygaard haben die Macher zudem das ganz große Los gezogen. Der kann einfach nur schauen.

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Lester stammelt, ist hilflos, überfordert und feig. Aber nur am Anfang. Die orange Jacke bleibt ihm jedoch.
Foto: AP Photo/FX, Chris Large

Doris Priesching: Ich mag "Fargo" auch, allerdings habe ich das Gefühl, da wird doch auch mit Gemeinplätzen jongliert, die in der Marktforschungsabteilung von FX womöglich gut abgefragt sind. Mir kommt vieles bekannt vor, und ich meine nicht die Filmvorlage. Dagegen ist grundsätzlich nichts einzuwenden, denn im besten Fall sind es Klassiker – Typen wie Lester Nygaard – das Bild des Losers, von der Gestik und Mimik erinnert er mich übrigens ganz stark an Zoe Barkow, die verquaste Krankenschwester aus "Nurse Jackie": "Yeah, oh, but, here's the thing, I mean, oh, oh …" Der sensible Polizist ist derselbe Typ wie Andy aus "Twin Peaks", die Polizistin kenne ich auch von Mimik und Figurenzeichnung bei Emma Chambers aus "The Vicar of Dibley" (kühner Vergleich!). Das Thema ist in gewisser Weise "Breaking Bad" abgeschaut – da gibt es den Antihelden, der seinen Charakter am Kriminal stärkt. Das Setting mit dem Schnee mag, glaub ich, auch jeder, weil man sich Kälte gern anschaut, ohne selbst zu frieren. Das funktionierte ja schon mit "Ausgerechnet Alaska". Und bei "Ein Mountie in Chicago" und "Men in Trees" und "Lilyhammer" und, und, und.

Michaela Kampl: Ich verstehe deine Kritik. Aber gerade dieses Schablonenhafte der Charaktere fügt sich in den Rest der Erzählweise. Wer aber so wie ich Molly in der zweiten Staffel vermisst, wird mit ganz vielen anderen tollen Frauen entschädigt. Mollys Mutter, die trotz Krebserkrankung die liebevolle Hausfrauenfassade aufrechterhält, dann die scheiternde Patriarchin der Gerhard-Familie oder Peggy, die ambitionierte Friseurin, und dann noch die Jüngste der Gerhard-Familie, die mit dem Feind ins Bett geht. Sie alle sind irgendwie ein Teil dessen, was in den 70er-Jahren mit der Frauenrolle in den USA passiert. Wisst ihr, was ich meine?

Julia Meyer: Erschreckenderweise sind die 70er-Jahre-Frauenfiguren stärker als die in den 2000ern, abgesehen von Molly. Allerdings gilt das, wenn ich recht überlege, auch für die männlichen Figuren. In Staffel zwei sind die Rollen einfach differenzierter gezeichnet. Die wunderbare Kirsten Dunst ist mein Highlight. Sie siedelt die Figur der Peggy zwischen Frigidität, Naivität und einer gewissen Kaltblütigkeit an und spielt sie einfach so zauberhaft.

Daniela Rom: Und Molly ist eh da, nur halt sechs oder vier Jahre als. Ist euch der Anschlussfehler aufgefallen? In der ersten Staffel erzählt Papa Solverson von dem argen Fall, den er vor Jahren hatte und der zur Geschichte der zweiten Staffel wird. Jedenfalls, in der ersten Staffel sagt er, er sei auf der Terrasse gesessen und habe seine vierjährige Molly beschützt. In der zweiten Staffel ist Molly sechs Jahre alt!

Michaela Kampl: Vielleicht ist das ja Absicht. Ein Hinweis darauf, dass die Geschichte, die hier erzählt wird, sehr viel ist, aber wahr ist sie nicht.

Daniela Rom: Uh, das wäre natürlich schon sehr super, wenn das so durchdacht wäre.

Julia Meyer: Dieses illusionsstörende Ding ist schon recht prominent. Allein dieser penetrante Verweis am Anfang jeder Folge auf die Wahrheit der Geschichte, der ja auch dem Film entstammt und auch eine stilistische Verbindung zwischen Staffel I und II ist.

Daniela Rom: Auch Staffel II zwei lässt beim Tempo nicht aus. Erneut eskaliert die erste Folge gleich. Diese erste Einstellung mit dem fancy Auto und den zwei Männern, die auf den dritten warten: Das ist große Kunst, das könnte man sich ausgedruckt auch an die Wand hängen. Optisch haben die Macher da wirklich eine neue Sprache erfunden. Dennoch: Das Tempo macht für mich den größten Reiz aus.

Michaela Kampl: "Fargo" ist irgendwie das umgekehrte "True Detective". Die zweite Staffel ist bei "Fargo" besser. Es gibt keine Filmvorlage mehr, mit der ich als Zuschauerin vergleiche. Was vielleicht Struktur gab, kann auch ein einengendes Korsett sein – und das fehlt nun bei Staffel II komplett. Vieles, was in der ersten Staffel eher zaghaft eingesetzt war, ist nun intensiver. Visuell ist die zweite Staffel mutiger und konsequenter: der geteilte Screen mit verschiedenen Szenen, die stärkeren Farben, mehr Dialoge an der Grenzen zwischen Absurdität und Wildem Westen.

Peggy (Kirsten Dunst) überfährt in Staffel II einen Mörder. Ist aber nicht wirklich kaltblütig.
Foto: FX

Julia Meyer: Es ist, als hätten sich auch die Serienmacher von der Verantwortung, den Filmnamen zu tragen, gelöst – inhaltlich, visuell und erzähltechnisch gibt es die Anknüpfungspunkte und verbinden sie die zwei Staffeln auf eine irgendwie liebevolle Art. Aber die zweite Staffel ist einfach besser, weil sie alles das, was die erste ausmacht, verfeinert. Und mir kommt auch einfach die Storyline interessanter vor.

Doris Priesching: Ja, das finde ich auch. Ich war überrascht, dass hier ein ganz neues Kapitel aufgeschlagen wird und dass es eine so eigene Struktur hat. Mir gefällt auch, wie es sich verzahnt mit der ersten Staffel – Autofahrten, Schnee, und dann passiert etwas. Allerdings kann man auch hier wiederum sagen, dass der Blaxploitation-Stil einer ist, von dem man ausgehen kann, dass ihn die "Fargo"-Zielgruppe mögen wird. Natürlich kann man sich in diesem räudigen Charme verlieren, und da werden ja auch ständig Filme in Optik und Akustik zitiert. Und vor allem in der Ausstattung.

Julia Meyer: Du bleibst hier der konsumkritische Geist! Aber es stimmt schon, stilistisch erfüllt "Fargo II" einige Kriterien, die einfach ein bestimmtes Publikum im Blick haben. Ich habe mich auch immer wieder an Quentin Tarantino erinnert gefühlt. Natürlich nicht durchgängig, aber sowohl bei Musikeinsatz als auch bei Gewaltdarstellungen und bestimmten Schnittfolgen.

Doris Priesching: Der Soundtrack ist wirklich schwer an Tarantino angelehnt. Anspieltipp, Folge drei: Yamasuki, "Yama Yama", und Bobbie Genry, "He Made a Woman out of Me". Versteht mich nicht falsch, ich finde das eh alles voll super, vor allem wie sich die Geschichten entwickeln, und diese Lederjacken sind zum Niederknien! Generell wäre "Fargo" allerdings das Zitat vom Zitat, denn Tarantino hat sich ja allerhand aus den 70ern ausgeliehen und auf den aktuellen Stand gebracht. Ich bin jedenfalls gespannt, was die dritte Staffel bringt. Aliens in Minnesota? (Michaela Kampl, Julia Meyer, Doris Priesching, Daniela Rom, 26.9.2015)