"Vom moralischen Zeigefinger halte ich überhaupt nichts", sagt Gerold Felician Lang von der Medizinischen Universität Wien.

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HIV-Kampagnen wie jene von Benetton 1993 sind Geschichte – dabei trägt Unwissen maßgeblich zum Anstieg der Neuerkrankungen bei.

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Eine Skulptur des Künstlers Sudarsan Pattnaik am Strand in Puri, Indien.

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STANDARD: Die HIV-Infektion, einst tödlich, hat durch die Therapierbarkeit ihren Schrecken verloren und ist durch die Medikamente zu einer chronischen Erkrankung geworden. Können auch die Ärzte Entwarnung geben?

Lang: Nein. Wir betrachten unsere Patienten in Kollektiven. Was stimmt: Die Zahl der jährlichen Neuinfektionen bei Heterosexuellen und Drogenabhängigen hat sich stabilisiert. Wir beobachten allerdings eine massive Zunahme in der Gruppe von Männern, die Sex mit Männern haben – MSM ist der medizinische Fachbegriff für sie.

STANDARD: Wie erklären Sie sich das?

Lang: Aufgrund der Behandelbarkeit scheint die Infektion ihren Schrecken verloren zu haben. Auch für all jene übrigens, die Aufklärungskampagnen machen. Ich sehe kaum mehr Anzeigen oder Werbespots, die Safer Sex propagieren oder zu HIV-Tests auffordern. In Österreich ist die Testquote sehr gering. Insgesamt ergibt sich daraus eine gefährliche Sorglosigkeit.

STANDARD: Was gälte es ins Bewusstsein zu rufen?

Lang: Einen offenen Umgang mit Sexualität und einen bewussten Umgang mit Risikoverhalten. Nur intensive Aufklärung und gezielte Prophylaxe in Hochrisikogruppen kann Neuinfektionen verhindern. Wir können bei den Neuinfizierten zwei Gruppen erkennen. Jene, die zwar ungeschützt Geschlechtsverkehr haben, sich ihres Risikos aber bewusst sind und regelmäßig zum HIV-Test kommen. Viel größere Sorgen machen uns aber diejenigen, die jegliche Gedanken an eine mögliche Infektion einfach verdrängen.

STANDARD: Wie verlaufen Infektionsgeschichten in solchen Fällen?

Lang: Diese Patienten sind sogenannte Late Presenter. Sie kommen erst ins Spital, wenn das Immunsystem durch die HIV-Infektion schwer beeinträchtigt ist und sie Krankheiten bekommen, die immunologisch Gesunden nichts anhaben können. Bei diesen oft Schwerkranken sehen wir atypische Formen von Lungenentzündungen, Tuberkulose oder auch Infektionen mit seltenen Mykobakterien. Die Liste der Krankheitserreger ist lang. Tatsache ist auch, dass genau diese Patienten über lange Zeit Infektionsquellen darstellen.

STANDARD: Aber doch nur bei ungeschütztem Geschlechtsverkehr?

Lang: Mangelndes Risikobewusstsein äußert sich ja vor allem darin, dass keine Kondome verwendet werden. Wir wissen, dass die Verwendung von Kondomen extrem rückläufig ist. Dabei geht es ja nicht nur um HIV, sondern auch um andere sexuell übertragbare Erkrankungen (Sexually Transmitted Diseases, STDs). Wir sehen seit einiger Zeit ein starkes Revival von Geschlechtskrankheiten.

STANDARD: Welcher Geschlechtskrankheiten?

Lang: Syphilis, Gonorrhö, Chlamydien, Herpes genitalis und HPV, um nur einige zu nennen. HIV wird häufig zusammen mit diesen Erkrankungen, die deutlich infektiöser sind als HIV, übertragen. Fatal dabei ist Folgendes: Bestehen gleichzeitig STDs bei einem unbehandelten HIV-Positiven, so führt das dazu, dass vermehrt HIV-Viren im Genitaltrakt sind. Die Patienten sind also ansteckender, als sie ohne STD-Infektion wären. HIV-Negative wiederum, die mit STDs infiziert sind, sind viel anfälliger für eine HIV-Infektion. Dieser Umstand ist eine Art Trigger für Neuinfektionen.

STANDARD: Bleiben Geschlechtskrankheiten unbemerkt?

Lang: Bei manchen Patienten verlaufen sie lange unbemerkt und werden erst in einem sehr späten Stadium entdeckt. Syphilis ist ein ganz gutes Beispiel. Ohne genaue Untersuchung bleibt das Geschwür (Ulcus, Anm.), das Syphilis verursacht, oft unentdeckt. Auch die Hautausschläge, die die Erkrankung in ihrem Verlauf auslöst, werden nicht richtig gedeutet, weil die Ärzte nicht an diese Möglichkeiten denken und den serologischen Nachweis nicht führen.

STANDARD: Was wäre eine genaue Untersuchung?

Lang: Die Untersuchung sämtlicher Körperöffnungen, die beim Geschlechtsverkehr involviert sein können. Eine Untersuchung des Rektums ist nicht nur bei Schwulen wichtig. Auch Frauen haben Analverkehr. Es gibt auch Schmierinfektionen zwischen Vagina und Anus. Eine anale Gonorrhoe oder eine Chlamydieninfektion werden oftmals als Verdauungsbeschwerden oder Reizdarm fehlgedeutet. Orale Sexualpraktiken bergen ebenfalls ein hohes Risiko für Gonorrhö. Eine Studie hat gezeigt, dass 69 Prozent unerkannt bleiben, weil kein Rachenabstrich abgenommen wurde.

STANDARD: Kennen HIV-Ärzte die sexuelle Realität besser als die Gesundheitsbehörden?

Lang: Es ist ein Faktum, dass die Menschen heute mehr Sexualpartner haben, das zeigt ja auch der große Erfolg von Dating-Plattformen im Internet. Noch nie war es so leicht, sich innerhalb einer Stunde einen Sexualpartner zu organisieren. Prophylaxe, da wo es sie gibt, ist deshalb wichtiger als jemals zuvor. Und dort, wo es Impfungen gibt, sollte man sie nutzen, gegen eine Infektion mit dem Humanen Papilloma-Virus (HPV) zum Beispiel.

STANDARD: Empfehlen Sie HIV-Risikogruppen eine HPV-Impfung?

Lang: Unabhängig von HIV oder sexueller Orientierung empfehle ich die HPV-Impfung jedem, ganz besonders dringend aber all jenen mit häufigen Partnerwechseln. Es gibt unterschiedlich aggressive HPV-Stämme. Die weniger aggressiven (Low-Risk-Typen) sind für die Entstehung von Genitalwarzen verantwortlich, auch da sehen wir einen Anstieg der Betroffenenzahlen. Die gefährlicheren HPV-Stämme (High-Risk-Typen) hingegen verursachen zwar keine unmittelbaren Symptome, langfristig entwickeln sie jedoch in den Schleimhäuten bösartige Karzinome. HPV-Infektion sind maßgeblich für die Entstehung von Gebärmutterhalskrebs, Vagina-, Penis- und Analkrebs verantwortlich. In 80 Prozent der Hals-Kopf-Tumoren können ebenfalls High-Risk-HPV-Typen nachgewiesen werden.

STANDARD: Die Impfung wirkt aber doch nur, wenn man sie vor dem ersten Geschlechtsverkehr bekommen hat?

Lang: Dazu gibt es mittlerweile ganz andere Daten. Auch junge Erwachsene profitieren noch davon. In den USA ist bereits die neue Impfung gegen neun HPV-Stämme (bisher nur gegen vier, Anm.) auf dem Markt. In Österreich wird sie im Frühjahr 2016 erhältlich sein. Die HPV-Impfung ist die einzig tatsächlich mögliche Krebsprophylaxe – und daher hochgradig sinnvoll.

STANDARD: Wäre Monogamie auch Prophylaxe?

Lang: Vom moralischen Zeigefinger halte ich überhaupt nichts. Dieses Konzept geht doch völlig am Leben vorbei. Jeder Mensch durchläuft auch einmal Phasen häufiger Partnerwechsel. Aus medizinischer Sicht gilt es, sämtliche Infektionsrisiken mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln einzudämmen. Das passiert in Österreich aber nur zum Teil.

STANDARD: Was meinen Sie?

Lang: Die unterschiedlichen Möglichkeiten der Prophylaxe. Nach einem riskanten Geschlechtsverkehr lässt sich die Ansteckung mit HIV durch die Post-Expositions-Prophylaxe (PEP) verhindern. Die wird von der Krankenkasse bezahlt, aber die meisten kennen diese Option nicht.

STANDARD: Wie funktioniert Post-Expositions-Prophylaxe?

Lang: Menschen, die einen riskanten Geschlechtsverkehr hatten, sollten umgehend, aber längstens innerhalb von 48 Stunden in eine HIV-Ambulanz kommen. Dort wird ihr Risiko durch eine standardisierte Befragung evaluiert. Ist das Ansteckungsrisiko hoch, wird dem Betroffenen einen Monat lang eine antiretrovirale Therapie verabreicht. Auf diese Weise wird verhindert, dass sich das HIV-Virus in körpereigene Zellen integriert und sich als lebenslange Infektion etablieren kann. Jeder HIV-Experte und sämtliche Leitlinien empfehlen diese Strategie, es gibt in Österreich jedoch Gebietskrankenkassen, die dem einfach nicht folgen.

STANDARD: Was halten Sie von der noch viel radikaleren Prä-Expositions-Prophylaxe (PrEP), also der vorsorglichen Einnahme von Medikamenten, die eine HIV-Infektion generell verhindert?

Lang: Ich bin ganz klar ein Befürworter, aber da geht es weniger um meine Meinung: Die WHO empfiehlt die PrEP Schwulen mit hohem Risikoverhalten, weil sie erwiesenermaßen Neuinfektionsraten senkt. Sehr eindrucksvoll hat das gerade eine Anwendungsbeobachtungsstudie am Kaiser Permanente Medical Center in San Francisco gezeigt. Innerhalb eines Beobachtungszeitraums von zwölf Monaten hatten 50 Prozent der Teilnehmer zwar eine Episode von STD, aber es gab im Gesamtzeitraum von drei Jahren keine einzige HIV-Infektion. Insgesamt ist die Zahl der Neuinfektionen in San Francisco zurückgegangen. Und das mit einer Tablette pro Tag, die eine Art abgeschwächte HIV-Therapie ist.

STANDARD: Ist das nicht ein Freibrief für wilden Sex?

Lang: Wilder Sex ist nicht mit Risikoverhalten gleichzusetzen. Die PrEP ist ja auch nicht als Ersatz für Kondome gedacht, weil sie ja auch vor den anderen Geschlechtskrankheiten oder Hepatitis C nicht schützt. Der Vorteil aus epidemiologischer Sicht ist aber auch, dass die PrEP immer für drei Monate verschrieben wird. Dadurch müssen diejenigen, die sich dafür entscheiden, regelmäßig zum Arzt und werden verpflichtend nicht nur auf HIV, sondern auch auf andere Geschlechtskrankheiten getestet. Auf diese Weise behält man diese Risikogruppe im Auge. Aus gesundheitspolitischen Überlegungen macht das Sinn. Es ist auch ein Grund, warum Frankreich gerade den Kostenersatz der PrEP eingeführt hat.

STANDARD: Wie ist die Situation in Österreich?

Lang: Die PrEP kostet 960 Euro im Monat und wird von den Krankenkassen nicht erstattet. Die Verantwortlichen in der Gesundheitspolitik nehmen ganz offensichtlich lieber das Infektionsrisiko in Kauf, obwohl sie sich damit auch bereiterklären, eines Tages für eine lebenslange Therapie aufkommen zu müssen. Studien zeigen sogar, dass die PrEP kosteneffizient ist. (Karin Pollack, 1.12.2015)