Proteste nach dem Votum: Mehrere Hundert Bürger gingen in Sofia auf die Straße. Sie sehen hinter der jüngsten Verfassungsreform ein Machtkartell in Politik und Wirtschaft, das Transparenz verhindert.

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Justizminister Hristo Iwanow warf alles hin.

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Sofia/Athen – Auf dem Papier ist es nur ein Detail, ein Sitz mehr, den die Politiker bestimmen können, und anderswo einer weniger. Doch Bulgariens jüngste Justizreform hat in den vergangenen Tagen nicht nur ihren Ressortchef verschluckt. Sie bringt nun auch die Mehrparteienregierung von Premier Boiko Borissow ins Wanken. Neuwahlen im Winter wären eine Verrücktheit, warnte der konservative Regierungschef bereits. Es wären in dem Balkanland seit 2013 die dritten vorgezogenen Wahlen in Folge.

Noch im Parlamentsplenum, gleich nach der Abstimmung am Mittwoch vergangene Woche, warf Justizminister Hristo Iwanow alles hin und erklärte seinen Rücktritt. Sein "schönstes Weihnachtsgeschenk" für sich selbst nannte er das. Das Parlament in Sofia hatte in zweiter Lesung eine Verfassungsänderung angenommen, allerdings zuvor ein Quorum verändert: Der oberste Justizrat des Landes, das Selbstverwaltungsorgan der Justiz (VSS), wird künftig in zwei Kammern aufgeteilt – eine für die Richter, die andere für die Staatsanwälte. Doch anders als Justizminister Iwanow vom Reformerblock, Borissows eigenwilliger Koalitionspartner, wollte, verzichtete eine Fünf-Sechstel-Mehrheit der Abgeordneten plötzlich auf einen der Sitze, die sie laut Vorlage in der neuen Kammer der Staatsanwälte bestimmen konnten; dafür fügten sie einen Sitz mehr für sich bei der Wahl der Richterkammer hinzu.

Transparenz beharrlich verhindert

Keine Kleinigkeit nach Ansicht von Reformpolitikern, Kommentatoren und selbst Vertretern der Justiz in Bulgarien. Sie werfen mehr oder minder offen der Parlamentsmehrheit Hörigkeit vor dem Generalstaatsanwalt vor sowie Teilhaberschaft an einem mafiösen System im EU-Land, das beharrlich Transparenz verhindert, um Geschäfte aller Art zu verdecken.

Der Ko-Vorsitzende des Reformerblocks und Chef der kleinen konservativen Partei DSB (Demokraten für ein starkes Bulgarien), Radowan Kanew, erklärte den Rückzug aus der Koalition. Der Block selbst will am Dienstag eine Entscheidung treffen. Er stellt sieben Minister in der Regierung, neben dem Justizminister auch Außenminister Daniel Mitow, Verteidigungsminister Nikolai Nentschew, Wirtschaftsminister Bozhidar Lukarski und die Vizeregierungschefin und frühere EU-Kommissarin Meglena Kunewa.

Nicht alle Politiker im Kleinparteienbündnis scheinen Kanews Kampfansage folgen zu wollen. Sie zweifeln gleichwohl am Reformwillen Borissows. Bereits im März war aus diesem Grund der Innenminister zurückgetreten.

Kalkül der Gegner

Politische Kräfte, allen voran die Geschäftsleutepartei DPS (Bewegung der Rechte und Freiheiten), haben ein offensichtliches Interesse an einem Auseinanderbrechen des Reformerblocks. Dessen Bildung war 2013 während der monatelangen Antiregierungsproteste auf den Straßen von Staatspräsident Rossen Plewneliew unterstützt worden. Auslöser der Proteste war die kurzzeitige Wahl des Medienzaren und DPS-Abgeordneten Deljan Peewski zum Chef der Staatssicherheit.

Aufsehen erregte eine Brandrede des Präsidenten des Kassationsgerichtshofs, Losan Panow, zwei Tage nach der umstrittenen Parlamentsabstimmung. Nichts geschehe zufällig in diesem Land, sagte Panow; die Oligarchie in Bulgarien habe ein System geschaffen, das klug Medien und Justiz für sich nutze. Der Richter schloss mit einem Appell an seine Kollegen: "Lasst uns zusammen das Unbekannte bekämpfen und laut rufen: Genug ist genug!" (Markus Bernath, 14.12.2015)