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Megacitys ziehen zwar die Aufmerksamkeit auf sich, doch wegen ihrer Größe kaum steuerbar, sagt Sigrun Kabisch. Im Bild zu sehen ist die Skyline des zentralen Teils von Hongkong.

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In der Stadtplanung braucht es Leitplanken und gleichzeitig Reaktionsmöglichkeiten für Extremereignisse, sagt Sigrun Kabisch.

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STANDARD: Wie beurteilen Sie als Stadtsoziologin das Pariser Klimaabkommen von voriger Woche?

Kabisch: Der Klimagipfel in Paris hat auch die Rolle der Städte als Akteure im Klimawandel betont. Unser Institut hat an einem internationalen City-Report zum Umgang mit dem Klimawandel mitgearbeitet, der als Summary for City Leaders bei dem Treffen der Stadtoberhäupter am 11. Dezember im Pariser Rathaus übergeben worden ist.

STANDARD: Städte gewinnen als Lebensraum zunehmend an Bedeutung – welche Herausforderungen sind damit verbunden?

Kabisch: Wir leben im sogenannten urbanen Zeitalter. Mehr als 50 Prozent der Menschen leben in Städten, bis 2050 rechnet man damit, dass es mehr als zwei Drittel sein werden. Eine große Herausforderung besteht darin, die Städte menschlich, sicher, mit Zugang zu Bildung und Gesundheitsinfrastruktur zu organisieren – und geschützt vor Umweltkatastrophen. Der Klimawandel spielt dabei eine entscheidende Rolle. 75 Prozent der urbanen Bevölkerung leben in Städten, die in Küstenregionen liegen. Doch durch den Klimawandel wird der Meeresspiegel ansteigen, und Extremwetterereignisse werden zunehmen.

STANDARD: Bietet der Klimawandel auch Chancen für die Städte?

Kabisch: Das kommt auf die Perspektive an. Wenn man kältere Regionen betrachtet, kann der Klimawandel mit Chancen verbunden sein, beispielsweise dass man nicht mehr so viel heizen muss. Generell werden sich durch den Klimawandel Extremereignisse häufen und intensiver auftreten. Das beeinträchtigt auch die Nahrungsmittelproduktion, die in Städten eine große Rolle spielt. In Entwicklungsländern wie in Afrika kommt ein großer Teil der Nahrungsmittel nicht vom Land, sondern wird direkt in den Städten produziert, es gibt dort eine urbane Landwirtschaft.

STANDARD: Sie beschäftigen sich mit dem Konzept der resilienten Stadt – was versteht man darunter?

Kabisch: Resilienz bedeutet Widerstandsfähigkeit gegenüber Einflüssen, die unerwartet sind. Das reicht von Klimaextremereignissen bis zu den jetzigen Flüchtlingsströmen. All das hat man in der normalen Stadtplanung nicht auf der Tagesordnung. Es braucht Leitplanken für das Erreichen der Stadtentwicklungsziele, die es zugleich ermöglichen, auf solche Extremereignisse reagieren zu können, ohne das gesamte Stadthandeln außer Kraft zu setzen.

STANDARD: Mit dem stetigen Zuzug in die Städte kommt es zu einem Bevölkerungsrückgang in anderen Regionen – welche Gegenden sind besonders davon betroffen?

Kabisch: Oft sind ländliche Regionen von Schrumpfungsprozessen betroffen, manchmal aber auch Städte. Die am schnellsten schrumpfende Stadt in Österreich ist Eisenerz. Weiters sind die Steiermark und Kärnten von Abwanderung betroffen. Die Ursache von Schrumpfungsprozessen ist oft der Verlust oder Zerfall der ökonomischen Basis der jeweiligen Region. Wenn keine Arbeitsplätze mehr vorhanden sind, gehen Menschen an andere Orte.

STANDARD: Welche Gruppen wandern ab, wer bleibt zurück?

Kabisch: Es wandert nicht der normale Durchschnitt der Bevölkerung ab, sondern es gehen die, die mobil sind, sozial stark, gut ausgebildet und sich gute Chancen an anderen Orten ausrechnen. In Ostdeutschland stellen wir fest, dass in den ländlichen Regionen, die sehr stark schrumpfen, vor allem viele Männer zurückbleiben. Frauen sind mobiler und finden etwa im Servicebereich schneller einen Job. Damit sind die zurückbleibenden Männer die Verlierer auf dem Arbeits- und Heiratsmarkt. Das fördert mitunter bestimmte Entwicklungen wie politischen Extremismus. Es werden dann zu einfache Erklärungen dafür gesucht, dass die Lebensbedingungen schlechter werden und eine Abwärtsbewegung in Gang gesetzt wird, wenn keine Alternativen sichtbar sind. Bei aller Euphorie für das Wachstum der Großstädte müssen wir bedenken, dass es immer große Regionen in der Welt geben wird, wo Schrumpfung stattfindet.

STANDARD: Sie forschen auch zu Megacitys – warum?

Kabisch: Die Megacity ist ein vielzitiertes und gerne aufgegriffenes Thema. Es gibt verschiedene Definitionen von Megacity, meist versteht man darunter große städtische Agglomerationen mit mehr als zehn Millionen Einwohnern. Die Megacitys stehen im Zentrum der Aufmerksamkeit aufgrund ihrer schieren Größe, Einwohnerzahl, Inanspruchnahme von Ressourcen, und viele diese Städte sind auch internationale Hubs von Wirtschaft und politischer Entscheidungsmacht. Auf der anderen Seite ist nicht jede Megacity ein wirtschaftlicher Schwerpunkt. Viele afrikanische Städte, die riesengroß sind, spielen in der Wirtschaft international so gut wie keine Rolle.

STANDARD: In einer Publikation haben Sie die Megacity als Risikolebensraum bezeichnet – warum?

Kabisch: Eine Megacity ist oft eine Primecity, das ist eine Stadt, die viele Ressourcen eines Landes konzentriert, andere Städte im Land spielen neben der Primecity nur eine marginale Rolle. Ich selbst habe in einem Projekt über fünf Jahre zu Santiago de Chile geforscht. Dort leben rund sechs Millionen Menschen, und die Stadt hat viele Merkmale einer Megacity. Die Megacity ist ein Risikolebensraum, weil unterschiedlichste Herausforderungen der Stadtentwicklung nur gemeinsam betrachtet in den Griff bekommen werden können. Das reicht von der Trinkwasserversorgung bis zur Terrorprävention.

STANDARD: Welche Rollen spielen Megacitys gesamtgesellschaftlich?

Kabisch: Wir haben immer sehr gerne die Megacityentwicklung im Blick, denn die Megacity ist irgendwie sexy. Aber in diesen großen Städten mit mehr als zehn Millionen Einwohnern leben weltweit nur zehn Prozent der städtischen Bevölkerung. Mehr als die Hälfte der Menschen, die in Städten leben, wohnen in Städten mit 500.000 bis eine Million Einwohnern. Deswegen sollte der Blick viel stärker auf solche kleineren Stadtstrukturen gerichtet werden, weil dort noch eine Steuerung möglich ist. Das Zusammenspiel aus politischem Handeln, Wirtschaft, Infrastruktur, Governance und Zivilgesellschaft kann dort noch gelenkt werden. Die Städte mit 500.000 bis einer Million Einwohnern sind auch die am schnellsten wachsenden Städte weltweit. (INTERVIEW: Tanja Traxler, 16.12.2015)