Was ist das japanische Nationalgetränk? Kaffee. Das Land importiert fast so viel Kaffee wie Italien, in den Städten stehen an wortwörtlich jeder Straßenecke Getränkeautomaten (angeblich gibt's einen Automaten pro 23 Japaner), die sowohl heißen als auch kalten Dosenkaffee (übrigens eine japanische Erfindung) verkaufen. Allein Seven Eleven, der allgegenwärtige Convenience Store, schenkt hier jährlich 700 Millionen Tassen Kaffee aus. Das ist aber bloß die dunkle Seite der japanischen Kaffeekultur.

"Egal ob Pizza oder Kaffee, Bluejeans oder Mozzarella, in Tokio gibt es höchstwahrscheinlich jemanden, der es besser macht als alle anderen auf der Welt", hat dieser Herr unlängst hier gesagt. Und er hat recht. Die Stadt hat eine der tollsten Kaffee(haus)-Kulturen, die mir je auf der Welt untergekommen sind.

Jetzt ist Japan generell besser bekannt für seine Teekultur, Kaffee hat hier aber eine ebenfalls gar nicht so kurze Geschichte. Der Röster von Matsuya Coffee, Kaffeeröster in der vierten Generation in Tokio, hat mir das so erklärt: Die ersten Bohnen kamen vor ungefähr 110 Jahren ins Land, als japanische Arbeitsmigranten nach Brasilien gingen, um Kaffeeplantagen zu pflanzen und zu bewirtschaften. Als Dank schenkte die brasilianische Regierung Japan fünf Jahre lang jede Menge Kaffeebohnen. Die japanische Kaffeesucht begann.

Der Barista von Satai Hato beim Brühen.
Foto: Tobias Müller

Gegenbewegung

Kurz darauf eröffneten die ersten Kaffeehäuser, erst in der Hafenstadt Osaka, dann auch in Tokio. Die "Kissaten", wie traditionelle japanische Kaffeehäuser heißen, waren zu ihrer Gründungszeit eine Art Gegenbewegung zu den etablierten, traditionellen Teehäusern: Während dort, in traditionellem Rahmen, die strikte soziale Hierarchie und alte Werte zelebriert wurden, waren die Kissaten nach westlichem Vorbild gestaltet und Treffpunkte für Bohemeniens, Künstler, Intellektuelle und andere widerständige Charaktere. Bis heute haben sie sich etwas von diesem Flair erhalten.

Foto: Tobias Müller

Daneben hat auch Tokio in den vergangenen Jahren die "Dritte Welle" der Kaffeehäuser erfasst – hier sehen sie aber erstens viel besser aus als anderswo, und zweitens bauen sie hier auf eine sehr lange, ungebrochene Tradition des qualitativ hochwertigen Kaffees auf.

Brühzeremonie im Ambre.
Foto: Tobias Müller

Das hat zwei Gründe: Erstens wurde (und wird) den Bohnen stets viel Aufmerksamkeit gewidmet, anders als in den meisten Wiener Kaffeehäusern. Zahlreiche Kissaten rösten bis heute selbst und bieten seit eh und je Bohnen aus verschiedensten Ländern und mit unterschiedlichen Röstgraden an. Die Kaffeekarte unterscheidet dementsprechend mitunter zwischen "süßen", "sauren" und "herben" Kaffees.

Mit Filter

Und zweitens war Espresso bis vor kurzem in Japan praktisch unbekannt und ist immer noch nicht weit verbreitet. Kaffee wird hier traditionell händisch mit Filter gebrüht – was den filterverliebten, hell röstenden Third-Wave-Vertretern sehr entgegenkommt. Hier wird seit Jahrzehnten gemacht, was jetzt in den USA, Australien und Europa wieder schick geworden ist. Nicht umsonst kommen viele der führenden Firmen für Third-Wave-Drip-Kaffeebedarf wie Hario und Kalita aus Japan.

Foto: Tobias Müller

Ein guter Ort, um japanische Brühtradition zu erleben, ist das Café de l'Ambre in Ginza. Seit 1946 wird hier, versteckt in einer kleinen Seitengasse , geröstet und gebrüht. Der Besitzer, Ichiro Sekiguchi, brüht hier schweigend und hochkonzentriert mit Messinggießkanne und Kupferkessel. Für den Haus-Eiskaffee wird das heiße Gebräu in einen Cocktail-Shaker gefüllt und so lange langsam auf einem Amboss-großen Eisblock gedreht, bis es die gewünschte Temperatur hat. Dann wird es in ein Champagner-Glas gefüllt und vorsichtig mit dickem Obers bedeckt – ein optischer wie geschmacklicher Hochgenuss.

Satai Hato ...
Foto: Tobias Müller
... bietet Kaffee aus gereiften grünen Bohnen.
Foto: Tobias Müller

Wollten Sie immer schon einmal gereiften Kaffee probieren? Satei Hato lässt einige seiner grünen Bohnen zwischen drei und mehreren Jahrzehnten lang lagern, bevor sie frisch geröstet und innerhalb einer Woche aufgebraucht werden. Klingt seltsam, schmeckt aber mitunter phänomenal.

Gebrüht wird hier wie in vielen Kissatens nicht mit einem Filter, sondern mit einem kleinen Sack, der einem Socken nicht unähnlich ist und einen gröberen Mahlgrad verlangt. Wer die herrlich altmodische Atmosphäre länger als eine Tasse lang genießen will, bestellt einen luftig-leichten Schwammkuchen in Großmutteroptik. Um die Ecke von Shibuja Station.

Der Angel-Stain-Espresso.
Foto: Tobias Müller

Der wahrscheinliche berühmteste Espresso Tokios. Besitzer Katsu Tanaka lebte und arbeitete jahrelang in den USA, unter anderem bei einer Werbeagentur und einer Logistikfirma. Dann beschloss er, das zu tun, was ihn im Leben wirklich interessiert, und sperrte sein eigenes Café auf, mitten in Tokios entzückendem Shimokitazawa-Bezirk. Für jeden seiner berühmt dickflüssigen "Angel Stain"-Espressos nimmt er teilweise mehrere Anläufe, bis er zufrieden ist, außer ihm selbst darf niemand an die Espressomaschine.

Serviert werden pro Tag ausschließlich 20 Portionen, und das nur zwischen elf und 13 Uhr, weil das Machen dieses Espressos angeblich so viel Konzentration erfordert, dass Tanaka nicht mehr hinbekommt. Klingt affektiert, das Ergebnis schmeckt aber tatsächlich ziemlich außergewöhnlich. Es ist so dickflüssig, dass es nur langsam aus der Tasse rinnt und sich im Mund anfühlt, als könnte man es kauen. Es schmeckt nach Toastbrot, Nüssen und dunkler Schokolade, und das mit einer aromatischen Wucht, die man sonst eher nur von Blauschimmelkäse oder Prosciutto kennt. Einmal getrunken, bleibt der Geschmack für gut eine halbe Stunde im Mund und verändert sich dabei die ganze Zeit ein wenig.

Omotesando Koffee

Foto: Tobias Müller
Foto: Tobias Müller

In einer kleinen Gasse abseits des Trubels von Omotesando, einer der belebtesten Einkaufsstraßen Tokios, befand sich eines der schönsten Cafés der Welt: Omotesando Koffee. Draußen konnten Gäste in einem kleinen japanischen Garten verweilen, drinnen gab es neben einem der wenigen guten Espressos in Tokio japanisches Design von grandios schöner Schlichtheit. Passend zum Gesamtkonzept gab es außerdem nur einen einzigen kleinen Snack, einen dunkel gebackenen Puddingwürfel – ganz, ganz köstlich. Die schlechte Nachricht: Zum Jahresende hat der Laden geschlossen. Hier finden sich seine Nachfolger.

Foto: Tobias Müller

Masahiro Onishi, Switch-Coffee-Besitzer, hat das Rösten in Melbourne gelernt, einer der Kaffeehauptstädte der Welt, und geht seiner Leidenschaft nun seit etwa zwei Jahren in seinem eigenen Laden nach. Im hinteren Geschäftsbereich steht die Röstmaschine, vorn werden die Kaffees händisch gebrüht und die ganzen Bohnen verkauft. Im Angebot sind stets mindestens fünf verschiedene Filterkaffees von fruchtig bis schokoladig. Der Laden liegt etwas abseits der üblichen Touristenpfade, wer die Reise auf sich nimmt, kann nach dem Kaffee am entzückenden Kanal nördlich der U-Bahn-Station Nakameguro flanieren und in den edlen Boutiquen einkaufen. (Tobia Müller, 24.1.2016)

Jede Menge Infos über Tokios Kaffees gibt's übrigens auf goodcoffee.me