Bei einem Stromschlag kann es zu Herz-Rhythmus-Störungen kommen, die im Elektrokardiogramm abgeklärt werden sollten.

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An dem Sonntagnachmittag hätte keiner gedacht, dass sich das Leben des Mädchens von einer Sekunde auf die andere so schlagartig ändern würde. Noch jetzt, Monate danach, sieht man die Folgen, und sie werden vielleicht ein Leben lang bleiben. Freunde der Eltern waren mit ihren Kindern gekommen, man hatte fröhlich Kaffee getrunken und Kuchen gegessen. Natürlich tobten die Kinder irgendwann durch das Haus – das Gerede der Erwachsenen war einfach zu langweilig.

Die Vierjährige versuchte mit ihren älteren Geschwistern mitzuhalten, flitzte um die Ecke, und dann war es passiert. Die Erwachsenen hörten einen dumpfen Schlag, klirrendes Glas, und nach einem kurzen Moment ein kreischendes Gebrüll. Das Mädchen war gegen die Glasscheibe gerannt, die Wohn- und Essbereich trennte. Die Mutter sah ihr kleines Mädchen am Boden, das Gesicht voller Blut, dazwischen die Scherben, ihr wurde übel.

Der Vater nahm die Kleine in den Arm, versuchte, mit einer Serviette das Blut zu stillen. Beherzt griffen die Freunde ein und riefen den Notarzt. "Als die Kleine eingeliefert wurde, dachte ich, das werden wir nie hinbekommen", erinnert sich Stefan Holland-Cunz, Chefkinderchirurg an der Uniklinik in Basel. Stundenlang flickte er das Gesicht des Mädchens zusammen, noch jetzt sind die Narben zu sehen.

Küche, Bad, Flur und Treppenhaus

"Die meisten Unfälle zu Hause kann man mit relativ einfachen Maßnahmen vermeiden – man muss nur daran denken", sagt Michael Nerlich, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie. Offenbar vergessen das aber viele Leute. 202.700 Personen verletzten sich gemäß dem Österreichischen Kuratorium für Verkehrssicherheit im Jahr 2014 zu Hause so schwer, dass sie im Spital behandelt werden mussten. Am häufigsten verletzten sich die Betroffenen bei Stürzen, am zweithäufigsten klemmten sie sich Körperteile ein, quetschten oder schnitten sich und am dritthäufigsten stießen sie mit einem Gegenstand oder einer Person zusammen. 42 Prozent verunfallten in Wohn-, Schlaf- oder Kinderzimmer, 20 Prozent in der Küche.

In Deutschland starben laut Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin im Jahr 2013 8.675 Menschen an Unfällen in den eigenen vier Wänden. Nerlich hat in seinem Leben schon hunderte von Patienten nach Verletzungen zu Hause versorgt. "Am meisten passiert in der Küche, gefolgt von Bad, Flur und Treppenhaus", erzählt der Experte. So wie bei der älteren Dame neulich: Sie stand nachts auf, um auf Toilette zu gehen, stolperte über ihre Hausschuhe vor dem Bett, stürzte und brach sich den Oberschenkel. Ähnlich ging es der 58-jährigen Frau, die Gardinen aufhängen wollte: Statt eine Leiter zu verwenden, kletterte sie auf ihren Schreibtischdrehstuhl und verlor das Gleichgewicht.

"Manchmal fragt man sich, ob die Leute nicht nachdenken", sagt Nerlich. So versorgte er neulich eine 35-jährige Frau, die sich einen Smoothie gemixt hatte und offensichtlich so ungeduldig auf ihre Kreation war, dass sie probierte, obwohl das Messer im Pürierstab noch nicht stillgestanden hatte. "Die Frau hatte sich die Zunge ganz übel zerschnitten, sie konnte wochenlang nicht richtig essen", erzählt Nerlich.

Knochenbrechender Stromschlag

Es gibt kaum einen Unfall, der zu Hause nicht passieren kann. Von Schnittverletzungen vor allem an der Hand beim Schnippeln oder durch zerbrochene Gläser beim Abwaschen, abgetrennten Fingerkuppen durch die Brotschneidemaschine, über Prellungen, Verstauchungen oder Zerrungen und Brüchen an Hand, Fuß, Bein, Wirbelsäule oder Kopf bis zu Gehirnerschütterungen und schwersten Hirnblutungen.

"Mehr als 90 Prozent der Unfälle entstehen durch Unachtsamkeit", sagt Michael Christ, Chef-Notfallmediziner an der Paracelsus Medizinischen Privatuni am Klinikum Nürnberg. "Der Rest sind unglückliche Zufälle." So wie bei der 42-jährigen Frau. Ihre Nachttischlampe funktionierte nicht, der Glühdraht in der Glühbirne war aber in Ordnung, wie sie nach dem Herausschrauben feststellte. Die Frau tastete mit dem Finger in der Fassung, ob etwas kaputt ist. Plötzlich zuckt sie heftig zurück – ein Stromschlag. "Sie hat völlig vergessen, den Stecker herauszuziehen – das kommt leider immer wieder vor", sagt Christ.

Auch wenn man sich nach einem Stromschlag einigermaßen gut fühlt, solle man besser zum Arzt gehen. "Durch den elektrischen Stromimpuls können die Muskeln so stark zucken, dass manche sich den Arm brechen. Außerdem kann es zu Herz-Rhythmus-Störungen kommen, die man im Elektrokardiogramm abklären muss." Wird jemand so stark getroffen, dass er ohnmächtig wird, kann man Hilfe leisten. "Aber natürlich erst den Stromkreis unterbrechen, sonst gibt es gleich den nächsten Verletzten."

Schwierige Diagnose

Bei der 83-jährigen Dame in seinem letzten Dienst war es keine Unachtsamkeit, die sie fast das Leben kostete. Sie wachte frühmorgens durstig auf, war aber so verwirrt, dass sie statt der Wasserflasche die Parfumflasche austrank. Erst Stunden später wurde sie bewusstlos von ihrer Tochter gefunden. "In den Parfums ist Isopropyl-Alkohol, das knockt einen genauso aus wie hochprozentiger Alkohol", erklärt Christ. "Das Problem dabei ist aber, dass man den Alkohol im Gegensatz zu Schnaps nicht riecht. Dann kommt auch der Notarzt nicht sofort auf die Diagnose."

Wegen einer beginnenden Demenz war auch der 75-Jährige fast gestorben. Sorgfältig hatte ihm der Pflegedienst für sieben Tage seine Medikamentenschachtel vorbereitet, aber der Mann hatte alle auf einmal genommen. "Er wurde erst nach Tagen auf der Intensivstation wieder wach. Gerade bei älteren Menschen muss man als Angehörige und Pfleger schauen, wie viel man ihnen noch zutrauen kann."

Bei Babys ist der Kopf am schwersten

Kinderchirurg Holland-Cunz erinnert sich kaum an einen Dienst, an dem er kein zu Haus verunfalltes Kind behandelt hat. Wird er von der Notfallstation gerufen, lässt er sich als erstes das Alter des Kindes und wie es passiert ist durchgeben. Während er über die Klinikflure zur Notfallstation trabt, geht er im Kopf die alterstypischen Unfälle durch. Wenige Monate alte Kinder stürzen oft von der Wickelkommode. "Mutter oder Vater wickeln das Baby, werden vom Geschwisterkind abgelenkt, und das Baby rollt runter."

Da der Kopf im Verhältnis zum Körper das schwerste ist, fällt das Baby darauf. Das kann nur eine leichte Schädelprellung machen bis zur schwersten Gehirnerschütterung. "Brüllt das Kind wie am Spieß, ist das ein gutes Zeichen", sagt Holland-Cunz. "Reagiert es aber nicht auf Ansprache, bleibt mit geschlossenen Augen liegen oder hat einen starren Blick, muss man so schnell wie möglich in die Klinik. Denn dann kann es in das Hirn geblutet oder sich Wasser angesammelt haben und lebenswichtige Hirnfunktionen werden gestört."

Auch bei vermeintlich banalem Unfall rät der Kinderchirurg, lieber zum Arzt zu fahren. "Auch wenn man am Anfang noch keine Symptome sieht, kann sich der Zustand später verschlimmern." Häufig sieht Holland-Cunz in dem Alter auch Verbrennungen, so wie neulich bei dem 3-Monate alten Buben. Die Mutter hatte das Badewasser für angenehm empfunden und ihr Baby ins Wasser gestellt. Für ihren Sohn war das Wasser aber zu heiß und er hatte sich die Füßchen verbrannt. "Es reicht ein kurzer Kontakt, dann kommt es zu Rötung und Blasenbildung", sagt Holland-Cunz. "Am besten Füßchen in feucht-kühle Handtücher mit kühlem Wasser einpacken und in die Klinik. Dort kümmern wir uns um die Wundbehandlung."

Hochriskante Gehschulen

Etwas ältere Kinder verletzten sich oft, wenn sie neugierig ihre Umgebung anschauen. So wie das sieben Monate alte Mädchen, das in der Küche auf dem Boden spielte und dann am Kabel des Wasserkochers zog. "Die Kleine war über und über mit kochendheißem Wasser begossen und lag mit den Verbrennungswunden Monate bei uns", erinnert sich Holland-Cunz. "Solche Unfälle kann man so leicht vermeiden, wenn man das Kabel an der Wand fixiert, sobald Kinder anfangen zu krabbeln."

Verbieten würde der Kinderchirurg am liebsten die "Gehfrei-Stühlchen", in denen Kleinkinder laufen lernen sollen. "Das sind echte Unfallmaschinen, weil die Kleinen damit ziemlich flott unterwegs sind." Er erinnert sich an das Kleinkind, das mit dem Gehfrei die Kellertreppe runtergestürzt war und sich eine schwere Schädelverletzung zugezogen hatte. "Wir sagen permanent etwas dagegen, aber man kriegt sie nicht vom Markt", erzählt Holland-Cunz. "In einem Geschäft für Kinderausstattung habe ich mal eine kleine Demo veranstaltet und den Eltern gesagt, dass die Geräte wirklich gefährlich sind. Kurze Zeit später hat man mich aus dem Geschäft geschmissen."

Sinnlose Suche nach der abgeschnittenen Fingerkuppe

Furchtbar weh tun die Quetschverletzungen der Finger der meist Zwei- bis Dreijährigen, aber zum Glück sei das nicht so schlimm. Paracetamol geben und ein feuchtes Tuch darauf oder ein kindgerechtes Kühlkissen, rät Holland-Cunz. Sollte der Finger dick werden und das Kind ihn nicht bewegen können, dann am besten in die Klinik fahren. "Manchmal kann auch etwas gebrochen sein."

Obwohl Holland-Cunz jetzt seit einiger Zeit in der Schweiz lebt, kann er den angeblich so kindgerechten stumpfen Schweizer Kinder-Taschenmessern nichts abgewinnen. "Gerade letzte Woche sah ich wieder einen siebenjährigen Jungen, der sich die Fingerkuppe damit abgesäbelt hatte. Ein Taschenmesser darf ein Kind unbeobachtet nicht vor zehn Jahren bekommen, auch die stumpfen nicht."

Keine Zeit solle man damit verschwenden, die abgeschnittene Fingerkuppe zu suchen, damit der Chirurg sie annähen könne. "Das haben wir in den letzten Jahren gelernt. Der Finger wächst prima von selbst wieder nach." Ähnlich wie bei der älteren verwirrten Dame kann es auch bei Kindern passieren, dass sie Flüssigkeiten trinken, die nicht dafür bestimmt sind. Kürzlich wurde ein siebenjähriger Junge mit schweren Verätzungen der Speiseröhre eingeliefert. Er hatte in der Werkstatt seines Opas Durst gehabt und nach einer Mineralwasserflasche gegriffen – der Opa hatte in diese aber Lauge eingefüllt. "Nur ein bisschen Wasser trinken lassen, auf keinen Fall Erbrechen auslösen und sofort in die Klinik", sagt Holland-Cunz. Nicht so schlimm sei es, wenn Kinder Spüli trinken, aber auch hier rät der Kinderchirurg zum Arztbesuch.

"Kinder brauchen Freiheiten"

Es gibt vermutlich keine Eltern, deren Kinder sich nicht schon mal am Kopf verletzt haben. "Man kann ja nicht alles mit Watte umwickeln. Den Kopf anhauen gehört dazu, wenn man Kind ist. Kinder brauchen Freiheiten, die müssen toben dürfen." Wenn eine Kopfplatzwunde nicht aufhört zu bluten, solle man sofort ins Spital fahren, besonders dann, wenn das Kind schläfrig oder gar ohnmächtig wird.

Bei lebhaften Vorschulkindern gibt es kaum ein Möbelstück, auf das sie nicht kraxeln, klettern oder turnen. Letzte Woche versorgte der Mediziner gleich drei Vier- und Fünfjährige mit Armbruch nach einem Sturz vom Hochbett, gestern eine Sechsjährige, die sich den Fuß beim Trampolinspringen brach. "Wenn die Kinder das Körperteil so gut wie gar nicht bewegen und sagen, sie haben starke Schmerzen, dann ist es vermutlich gebrochen. Auf jeden Fall lieber zu früh als zu spät in die Klinik." Wenig Unfälle zu Hause passieren bei Teenagern. "Die ziehen sich lieber zum Musikhören oder Facebooken ins Zimmer zurück. Wenn sie einen Unfall haben, dann eher auf dem Rad oder beim Sport."

"Ich mag meinen Job, aber mit etwas mehr Umsicht hätten wir Ärzte sicherlich häufig ruhigere Dienste", sagt Notfallmediziner Christ. "Also Stolperfallen wie Kabel, Spielzeug oder Schuhe wegräumen, rutschfeste Teppichunterlagen, beim Hantieren mit elektrischen Geräten die Sicherung ausschalten, ordentliche Beleuchtung, Putzmittel und sonstige gefährliche Flüssigkeiten wegschließen – damit können die größten Gefahrenquellen vermieden werden." Und vielleicht sollte man in einem Haushalt mit Kindern vielleicht auf elegante, aber gefährliche Glasscheiben als Raumteiler verzichten. (Felicitas Witte, 11.2.2016)