Die politisch Verantwortlichen führen aus, was anscheinend die Mehrheit der verunsicherten Österreicher will. Verteidigungsminister Hans Peter Doskozil und Innenministerin Johanna Mikl-Leitner an der Grenze in Spielfeld.

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Das Elend der Flüchtlinge hat viele Menschen in den vergangenen Monaten zu solidarischem Handeln motiviert, die bis vor kurzem von Politikern der beiden Regierungsparteien vor allem als "Konsumenten" und Konkurrenten auf dem Arbeitsmarkt gesehen wurden. Unerwartete Ereignisse fördern unerwartete Handlungen. Es zeigte sich, wozu unsere Gesellschaft fähig ist, wenn die solidarische Seite in uns angesprochen wird und nicht auf egoistisches Konkurrenzdenken als menschlichen Grundimpuls gesetzt wird. Die Zivilgesellschaft hat ein deutliches Lebenszeichen gegeben. Bestärkende und unterstützende Worte und Handlungen vonseiten der politisch Verantwortlichen hingegen kamen nur zögernd – fast schien es, als hätten sie Angst vor der Einmischung in ihr Tagesgeschäft. Aber eines muss klar sein, ohne das spontane und wirkungsvolle Handeln so vieler Menschen in unserem Land und in vielen Ländern Europas wären in den vergangenen Monaten einige europäische Staatswesen kollabiert.

Es braucht klare Ansagen

Seit einigen Wochen hat sich der Wind allerdings gedreht. Jene, die nichts zur Bewältigung der Flüchtlingskrise beitragen, gewinnen in der öffentlichen Diskussion wieder die Oberhand. Angst vor dem, was noch auf uns zukommt, macht sich breit. All jene, die in Notsituationen das tun, was uns als menschliche Wesen ausmacht, werden ungeniert als naive Vertreter einer lächerlichen "Willkommenskultur" diffamiert.

Und was tut unsere Regierung? Sie geht vor jenen in die Knie, die nichts anderes im Sinn haben, als unseren Sozialstaat und demokratische Errungenschaften zu demontieren. Die politisch Verantwortlichen führen aus, was anscheinend die Mehrheit der verunsicherten Österreicher will. Das ist ihr Verständnis von Demokratie. Aber Mehrheiten sind keine festgefügten Blöcke, Meinungen sind veränderbar. Ich sehe allerdings niemanden in der Regierung, der ehrliche Worte spricht und versucht, Meinung zu bilden, statt unreflektierte Ansichten zu übernehmen. Die vielfältigen ökonomischen, ökologischen und sozialen Krisen überfordern viele Menschen. Es bräuchte klare Aussagen darüber, dass sich Europa und unsere Lebensweise verändern werden, egal ob wir versuchen, Flüchtlinge auszusperren, oder ob wir eine Asylpolitik machen, die Menschenrechte und Menschenwürde respektiert.

Wollen wir gestalten oder uns überrollen lassen?

Dabei müssten wir uns spätestens jetzt Fragen stellen. Haben wir wirklich geglaubt, wir können jene auf Dauer von unserer Wohlstandswelt fernhalten, die unsere billigen Rohstoffe, Textilien und Genussmittel unter menschenunwürdigen Bedingungen produzieren? Haben wir geglaubt, wir können den Klimawandel ignorieren, weil er ja bei uns nicht so katastrophale Folgen zeitigen wird? Haben wir geglaubt, es hat keine Auswirkungen auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt, wenn weltweit 62 Personen so viel besitzen wie die ärmeren 3,6 Milliarden Menschen? Haben wir geglaubt, die USA und die EU können sich zynisch und einfältig in lokale Konflikte einmischen, ohne damit Pulverfässer zu zünden? Haben wir geglaubt, dass die 60 Millionen Menschen, die derzeit auf der Flucht sind, dauerhaft einen Bogen um Europa und unsere Wohlstandswelt machen werden? All dies haben viele Menschen anscheinend tatsächlich geglaubt. Aber die Globalisierung bringt nicht nur Waren, Dienstleistungen und Finanzkapital in Bewegung, sondern auch Menschen.

Der Wandel unserer Lebenswelt ist nicht zu verhindern, die Frage ist nur, ob wir ihn gestalten oder ob er uns überrollt. Ich nehme an, dass die meisten politisch verantwortlichen Menschen sich dessen bewusst sind, aber nicht den Mut haben, es auch auszusprechen. Aber von der Verantwortung, Entscheidungen entweder aufgrund von vermuteten unsolidarischen und unchristlichen Mehrheiten zu treffen oder Mehrheiten für eine menschenwürdige Politik zu gewinnen, kann die Politiker niemand entbinden. Es gibt genug Beispiele in der Geschichte, dass es auch vordergründig demokratisch legitimierte Unmenschlichkeit gibt, die Gesellschaften zerstört. (Traude Novy, 18.2.2016)