"Wir wissen heute, dass Krankheiten, die wir unter einem Überbegriff zusammenfassen, oft tatsächlich ganz unterschiedlich sind – das kann sowohl bei angeborenen Erkrankungen als auch bei manchen Krebserkrankungen die Ursache sein, dass Medikamente in einem Fall helfen und im anderen nicht", sagt der Medizinforscher Kaan Boztug.

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STANDARD: In Wien fand unlängst eine große Konferenz zu seltenen Erkrankungen statt. Welche Neuigkeiten gab es?

Kaan Boztug: Wir gehen derzeit davon aus, dass es rund 8.000 seltene Erkrankungen gibt, die wir kennen, und sicherlich eine ganze Reihe anderer, von deren Existenz wir einstweilen noch nichts wissen. Wenn es nur wenige Patienten auf der Welt gibt, ist eine internationale Vernetzung eine ganz entscheidende Sache. In den letzten Jahren haben wir mit dem Cerud (Vienna Center for Rare and Undiagnosed Diseases) und jetzt neu dem neuen Ludwig-Boltzmann-Institut für Rare and Undiagnosed Diseases nationale Anlaufstellen und Forschungseinrichtungen geschaffen. In der Konferenz, die wir organisiert haben, ging es darum, wie wir die Zusammenarbeit international intensivieren und koordinieren können.

STANDARD: Wie werden die 8.000 seltenen Erkrankungen unterteilt?

Boztug: Die Erforschung der seltenen Erkrankungen hat durch die Möglichkeit der Genom-Sequenzierung enorm profitiert. In 80 Prozent aller Fälle ist ein einziges defektes Gen die Ursache. Die Untersuchung der genetischen Ursachen seltener Erkrankungen lehrt uns auch sehr viel darüber, welche Rolle und Funktion die betroffenen Gene haben und wie der Körper funktioniert. Es ist an dieser Stelle deshalb auch interessant anzumerken, dass also nicht nur Menschen mit seltenen Erkrankungen von der Forschung profitieren, sondern die Medizin ganz allgemein. Ich denke, die Zukunft der Medizin liegt gerade darin, solche Zusammenhänge zu verstehen.

STANDARD: Aber wie erkennt man, ob eine Erkrankung, die unterschiedliche Symptome hat, einen ganz bestimmten genetischen Ursprung hat?

Boztug: Dafür braucht es tiefgreifende klinische Expertise als auch ein molekulares Verständnis von Erkrankungen. Nach einer genauen Erfassung der klinischen Symptome kann heutzutage möglicherweise auch eine Genom-Sequenzierung eine entsprechende genetische Ursache identifizieren. Wir haben in den letzten Jahren standardisierte und anonymisierte Formulare für die Datenerfassung entwickelt und sind dabei, Datenbanken aufzubauen, auf die registrierte Wissenschafter weltweit zugreifen können. Wir beginnen gerade, diese Datenbanken zu füttern. Ziel ist, dass ich eines Tages auf Knopfdruck ähnliche Fälle finde und mich fachlich austauschen kann.

STANDARD: Wie war das bis jetzt?

Boztug: Bis heute beschreiben wir Ärzte immer wieder Krankheitsfälle, allerdings nicht standardisiert. Wir beschreiben sie häufig in eigenen Worten, in der eigenen Sprache. Das macht eine internationale Vernetzung nahezu unmöglich. Mit genauen Daten und Möglichkeiten der Bioinformatik schaffen wir es, Phänotypen zu definieren, also sämtliche Merkmale eines Krankheitsbildes zu erfassen. Wer sucht, bekommt idealerweise einen Match, findet Vergleichbares in der Datenbank. Das funktioniert fast ein bisschen so wie eine Dating-App im Internet. Es geht sozusagen darum, ähnliche Profile, also Krankheitsmerkmale erkennen zu können.

STANDARD: Was genau bringt es Patienten?

Boztug: Patienten wollen wissen, was ihnen fehlt. Für die Diagnose seltener und bisher unbekannter Krankheiten kann die Forschung, wie sie am Cerud betrieben wird, viel leisten. Zum anderen geht es auch darum, eine Anlaufstelle zu schaffen. Sie an die richtigen Behandlungszentren zu verweisen, sie eventuell mit Selbsthilfegruppen in Kontakt zu bringen, wenn es solche gibt. Bei uns laufen sozusagen die Fäden zusammen. Wir versuchen hier eine Koordinierungsstelle zu sein. Das ist die Idee.

STANDARD: Der Körper ist ein hochkomplexes System. Was ist die größte Herausforderung, wenn man sich wissenschaftlich mit seltenen Erkrankungen beschäftigt?

Boztug: Es ist doch so, dass jede Suche nur dann funktioniert, wenn man grob weiß, was man sucht. Bei seltenen Erkrankungen ist das besonders schwierig, bei Erkrankungen, die überhaupt keine Diagnose haben, noch umso mehr. Zudem ist die Medizin in den letzten Jahren zunehmend organspezifisch geworden, bei seltenen Erkrankungen geht es aber oft um einen fächerübergreifenden Blick.

STANDARD: Konkret gesprochen: Können Patienten sich direkt an Sie wenden?

Boztug: Der offizielle Weg geht über einen Facharzt beziehungsweise Spezialambulanzen. Wir prüfen dann sämtliche Unterlagen und finden heraus, ob wir im konkreten Fall etwas tun können. Ob eine genetische Analyse Sinn machen würde, ob wir Ansprechpartner oder Forschungszentren im In- und Ausland kontaktieren können.

STANDARD: Gibt es bei der Betreuung seltener Erkrankungen hier in Österreich Schwerpunkte?

Boztug: Gemessen an der Größe des Landes haben wir in Österreich sehr viele verschiedene Schwerpunkte von international sichtbarer Qualität. Eine besondere Expertise liegt in der Erforschung von angeborenen Immundefekten, angeborenen Haut- und Stoffwechselerkrankungen und seltenen neurologischen Defekten.

STANDARD: Kann es sein, dass Patienten zur Behandlung einer seltenen Erkrankungen in ein Zentrum außerhalb Österreichs fahren müssen?

Boztug: Der Trend geht in eine andere Richtung. Der große Vorteil der Vernetzung liegt ja gerade darin, dass alle Zentren weltweit mehr oder weniger gleich vorgehen. Es kann also durchaus reichen, sich mit einem Arzt aus einem spezialisierten Zentrum nur zu beraten, quasi Expertise und Erfahrungen auszutauschen, die Patienten dann aber wohnortnah zu versorgen. Wir haben hier in Österreich Patienten mit Immundefekten, die im Waldviertel leben und dort die Routineversorgung über den Arzt vor Ort bekommen. Und einmal im Jahr kommen sie zu einem Check ins Zentrum.

STANDARD: Wie ist der Status bei der Entwicklung von Therapien?

Boztug: Die Erkenntnisse über die genetischen und molekularbiologischen Grundlagen haben die Medizin schon sehr stark verändert. Wir wissen heute, dass Krankheiten, die wir unter einem Überbegriff zusammenfassen, oft tatsächlich ganz unterschiedlich sind – das kann sowohl bei angeborenen Erkrankungen als auch bei manchen Krebserkrankungen die Ursache sein, dass Medikamente in einem Fall helfen und im anderen nicht. Durch unser molekulares Verständnis werden wir in Zukunft also sehr viel stärker als bisher mit sogenannten seltenen Erkrankungen zu tun haben

STANDARD: Und wenn es für eine Erkrankung keine zugelassene Therapie gibt?

Boztug: Manchmal können wir Symptome lindern, indem wir Medikamente, die an sich für andere Erkrankungen zugelassen sind, einsetzen. Dieser sogenannte Off-Label-Use ist natürlich Einzelfällen vorbehalten.

STANDARD: Was ist wichtig für Patienten mit seltenen Erkrankungen?

Boztug: Dass ihr Krankheitsbild auch offiziell anerkannt wird und sie Anspruch auf Behandlung und Unterstützungen wie etwa Pflege haben. Es kann in anderen Ländern sogar zu Problemen mit der Krankenversicherung kommen, wenn es für eine Erkrankung keinen offiziellen Eintrag im ICD-Code (International Statistical Classification of Disease and related Health Problems, das Verzeichnis der bekannten Erkrankungen, Anm.) gibt. Das ist bei uns in Österreich nicht der Fall, aber die Patienten haben trotzdem Nachteile, die wir abbauen wollen. (Karin Pollack, 29.2.2016)