Der US-Fotograf Leon Bornsztein dokumentierte 30 Jahre lang das Leben seiner körperlich und psychisch beeinträchtigten Tochter – schonungslos und trotzdem schön.

Die Geburt eines Kindes ändert alles. Zumindest für die Eltern. Das war auch beim US-amerikanischen Fotografen Leon Bornsztein so. "Ehrlich, ich habe mir nie Kinder gewünscht. Ich hatte Angst, den enormen Aufgaben eines Vaters nicht gewachsen zu sein", schreibt er am 1. August 1984 in sein Tagebuch – jenem Tag, an dem seine Tochter geboren wurde. Die Zäsur in seinem Leben heißt "Sharon".

"Gleich nach der Geburt hatte ich das Gefühl, dass mit ihr etwas nicht stimmt. Nach und nach merkten wir, dass sie mit Behinderungen geboren worden war. Sie galt im rechtlichen Sinne als blind, ihre Fein- und Grobmotorik war nicht entwickelt und sie hatte einen schwachen Muskeltonus. Dazu kamen Autismus-Symptome, Epilepsie und eine verzögerte Sprachentwicklung", berichtet Bornsztein.

Leon Borensztein/Kehrer

"Ich verdiene mein Leben mit dem Fotografieren von Menschen. Oft fotografiere ich Familien, manchmal nur ihre Kinder. Ich genieße es mit ihnen zu arbeiten, bin geduldig und bringe sie zum Lachen. Eine Ausnahme gibt es allerdings, ...

Leon Borensztein/Kehrer

... ein kleines Mädchen, das mich nicht ansieht und keineswegs lächelt. Dieses eigensinnige Kind ist meine Tochter", schreibt Bornsztein im Februar 1985.

Leon Borensztein/Kehrer

Das Kapital des Fotografen sind seine Augen. Mit ihnen dokumentiert er auch seinen familiären Alltag. Zu akzeptieren, dass seine Tochter blind ist, fällt ihm besonders schwer. Im August 1985 steht die endgültige Diagnose fest: Optikushypoplasie (ONH), die häufigste angeborene Anomalie des Sehnervs.

Leon Borensztein/Kehrer

Als Sharon zwölf Jahre alt ist, trennen sich Leon Bornsztein und seine Frau Cathy. Das Kind leidet unter dem Verlust der Mutter. "Ich will meine Mami", wiederholt sie immer wieder. "Es zerreißt mir das Herz. Zu all ihren Problemen, gibt es nun noch eines mehr: eine kaputte Familie. Meine arme Sharon", so der Fotograf am 25. Juni 1996.

Leon Borensztein/Kehrer

Bornsztein widmet nun den Großteil seines Lebens der Tochter. Schließlich werden Sahrons epileptische Anfälle so häufig, dass sie kaum noch das Haus verlassen können. "Ich bin vollkommen erschöpft – mental und körperlich", schreibt er in einem Brief an Freunde und Familie.

"An manchen Tagen öffnet sie morgens ihren Mund und wiederholt ständig die gleichen Fragen und Beschwerden. Dann beginnt meine Brust zu schmerzen, mein Magen dreht sich um und meine Gelenke tun weh. In solchen Momenten kann ich ihre Stimme nicht mehr ertragen. Ich versuche zu verbergen, wie ich mich fühle."

Es sind auch Jahre, in denen vor Gericht um die Tochter gekämpft wird. Im Jahr 2004 erhält der Vater das alleinige Sorgerecht.

Leon Borensztein/Kehrer

"Ich habe mich als alleinerziehender Vater mehr als 15 Jahre um Sharon gekümmert. Unglaubliche Jahre. Sie hat langsam aber stetig Fortschritte gemacht. Jene, die sie längere Zeit nicht gesehen haben, würden sich über ihre verbalen sowie sozialen Fähigkeiten wundern – und wie erwachsen sie geworden ist. Sie ist eine wunderschöne und lebensfrohe junge Frau", schreibt der Fotograf in einem Brief im Oktober 2013.

Foto: Leon Borensztein/Kehrer

Als Sharon 29 Jahre alt ist, beschließt Leon Bornsztein, dass es Zeit für sie ist, in ein Heim zu ziehen. Er muss wieder an sich selbst denken – andernfalls habe er keine Kraft mehr für seine Tochter.

Leon Borensztein/Kehrer

"Sharon ist sehr sentimental, wenn sie mich an den Wochenenden besucht", so der Vater. "Ich sage ihr: 'Sharon, du kannst Daddy jederzeit anrufen'. Aber sie ruft nie an. In dem Augenblick, in dem sie in ihrem Apartment ist, fühlt sie sich ganz zuhause."

Die Arbeit an dem Buch beschreibt der Fotograf als äußerst schwierig. "Ich sitze in der Nacht in meinem Studio und schaue mir die Bilder von Sahron an. Ich kann meinen Blick nicht von ihr lassen – wie schön sie doch ist. Wenn ich dann meinen Text lese, verschwindet mein Lächeln. Er erinnert mich an die unglaublichen Frustrationen, die wir gemeinsam durchgemacht haben. Ich vermisse sie sehr, aber sie braucht ihren eigenen Raum – und ich auch." (Günther Brandstetter, 7.5.2016)

Leon Borensztein
Sharon

Kehrer Verlag, 2016
145 Seiten, 41,10 Euro

Foto: Leon Borensztein/Kehrer