Jack McDevitt: "Apollo"
Broschiert, 479 Seiten, € 10,30, Bastei Lübbe 2016 (Original: "Coming Home", 2014)
"Coming Home" ist der Originaltitel des jüngsten Romans Jack McDevitts über den interstellaren Antiquitäten- und Mysterienjäger Alex Benedict, dem ersten seit dem 2011 veröffentlichten "Firebird". Passender geht es kaum, denn einen Alex-Benedict-Roman liest man, wie man nach der Arbeit ins bequemste Paar Hausschuhe schlüpft, die man zuhause hat.
Die Ausgangslage
Aber natürlich bezieht sich der Titel auf etwas anderes. Er ist die Klammer, mit der McDevitt die beiden Plotstränge seines Romans zusammenhält: Da hätten wir zum einen ein verschwundenes Raumschiff, das im Brigadoon-Stil immer nur für kurze Zeit wieder materialisiert. Und zum anderen einen Trip zur guten alten Erde, die in den bisherigen Romanen keine direkte Rolle gespielt hat; Benedict betreibt seine Geschäfte ja vom Kolonialplaneten Rimway aus. In seiner Kindheit hatte Alex die Urheimat der Menschheit allerdings schon einmal besucht. Diesen Trip zusammen mit seinem Onkel und Mentor Gabe schildert der Prolog – und Gabe fungiert ebenfalls als Klammer, denn er gehörte später zu den Passagieren des verschwundenen Schiffs.
Das liest sich jetzt freilich nach einem stringenteren Konzept, als es in der Ausformung dann tatsächlich ist. In Wirklichkeit überschneiden sich die beiden Handlungsstränge kaum und "Apollo" ist eher Zwei-Romane-in-einem-Band – aber zum Glück sind beide wie gewohnt lesenswert. McDevitt schreibt wie immer geradlinig, sauber – einfach angenehm.
Ebene 1
Vor 16 Jahren war es, als das Raumschiff "Capella" mit tausenden Passagieren an Bord verschwand. Von noch älteren Fällen weiß man inzwischen, dass ein unglückliches Wechselspiel des Antriebs mit dem Raum-Zeit-Gefüge Schiffe in einer Art Zeitblase gefangensetzen kann. Während für die Menschen an Bord nur Tage verstreichen, können es draußen Jahrhunderte sein. Einem Wissenschafterteam ist es nun gelungen, den nächsten Wiedereintritt der "Capella" in den Normalraum zu berechnen. Eine Rettungsmission läuft an – und zwar eine ziemlich plausibel geschilderte, da sie mit jeder Menge logistischer Probleme zu ringen hat.
Die Wissenschafter sind sich über die beste Rettungsmethode uneins. Lieber auf Nummer sicher gehen und immer nur ein paar Leute evakuieren, selbst wenn man dann auf viele weitere Wiederkünfte der "Capella" warten muss? Oder nicht vielleicht doch ein radikalerer Eingriff, mit dem man alle auf einen Schlag evakuieren könnte – allerdings mit dem Risiko, dass etwas katastrophal schiefgeht? Dass rundherum ein gewaltiger Medienrummel losbricht, vereinfacht die Sache natürlich auch nicht. Wir begegnen verzweifelten Angehörigen von Passagieren, die um jeden Preis ihre Lieben wiedersehen möchten. Andere hingegen wehren sich ebenso vehement gegen ein potenziell riskantes Eingreifen.
Ebene 2
Alex und mehr noch seine Assistentin und Pilotin Chase Kolpath, die wie gehabt als Ich-Erzählerin "seiner" Romane fungiert, sind in die Rettungsmission involviert, gehen aber auch noch einer anderen Sache nach. Die Enkelin des verstorbenen Archäologen Garnett Baylee hat in dessen Nachlass ein kostbares Artefakt aus dem 26. Jahrhundert gefunden. Das könnte der Schlüssel zu einem Schatz von unvorstellbarem Wert sein: der lange verlorenen NASA-Sammlung, die bis zurück zu den Tagen der Mondmissionen reichen soll (darum der deutsche Titel "Apollo").
Wie wir es von McDevitts früheren Romanen gewohnt sind, setzen sich Alex und Chase dem Geheimnis auf die Spur, hangeln sich von einem Indiz zum nächsten, interviewen jede Menge Leute, werden in die Irre geführt und erleiden Rückschläge, bleiben aber beharrlich am Ball. Und gehen wir mal davon aus, dass sie auch in diesem Fall am Ende erfolgreich sein werden.
Ebene 2,5
Als dritten Subplot könnte man die Geschichte der Erde nennen, die bereits im Prolog Infodump-mäßig angerissen worden war. Mit Alex' neuerlichem Besuch auf der Erde dringen wir etwas tiefer in die Materie vor. Wir erfahren, wie unsere Ära (das Goldene Zeitalter) nach Klimawandel, andauernden Wirtschaftskrisen, dem Zusammenbruch des Internets und dem Aufkommen radikaler Kräfte Mitte des 3. Jahrtausends zu Ende ging. Es folgte das lange Dunkle Zeitalter, in dem fast alle Errungenschaften der Vergangenheit verloren gingen, ehe sich die bereits auf mehreren Planeten siedelnde Menschheit wieder erholte.
Mittlerweile sieht die Erde wieder ganz proper aus, nur ein bisschen anders. Von vielen Landmassen sind nur Archipele geblieben, überflutete Städte und Monumente wurden an anderen Orten rekonstruiert, die Schwerpunkte haben sich ein wenig verschoben. Welthauptstadt ist inzwischen übrigens Winnipeg. Wie hoch wären da wohl die Wettquoten im Vorfeld gewesen?
Zyklische Geschichte
Zwar schon oft gesagt, muss man dennoch immer wieder auf die retrofuturistische Anmutung der Alex-Benedict-Romane hinweisen. Nicht vergessen, wir befinden uns hier im 12. Jahrtausend! In den archäologischen Schichten, durch die sich Alex Benedict gräbt, lagern ähnlich viele versunkene Zivilisationen wie in Alastair Reynolds' "Haus der Sonnen", es fühlt sich bloß ganz anders an. Ungefähr wie die 1960er Jahre plus Internet und interstellare Raumfahrt. Im Fernsehen laufen Talkshows, im Theater gönnt man sich Stücke mit Titeln wie "Peytons Narretei" und im Restaurant wird die vermutlich unsciencefictioneskeste Mahlzeit des Universums bestellt: Hackbraten mit Kartoffelpüree.
Es wirkt, als hätte jemand die galaktische Zivilisation in einem vorläufigen idealen Endzustand konserviert wie die Erde in John Scalzis "Old Man's War"-Reihe. Von Nanotechnologie, Körperimplantaten, totaler Vernetzung und all dem anderen Technospielzeug, das die gegenwärtige SF bestimmt, ist hier nichts zu lesen. Als Erklärung für die technologische Stagnation seit dem Goldenen Zeitalter fallen Verweise auf einen zyklischen Geschichtsverlauf und der lapidare Satz: "Es gab einfach nicht mehr so viel zu entdecken."
Mit Augenzwinkern
Da steckt natürlich auch eine gehörige Portion Selbstironie drin. Genauso wie in dem Umstand, dass in einem Roman, der ganz im Stil von Golden-Age-SF geschrieben ist, ständig vom Goldenen Zeitalter geschwärmt wird. Oder in der Betonung des Unterschieds zwischen der aktuellen Standardsprache und dem längst vergessenen alten Englisch – während gleichzeitig sämtliche ProtagonistInnen WASP-Namen tragen. Es gibt sogar eine KI, die sich die exotische Bezeichnung Charles Hopkins gegeben hat.
Dass McDevitt ganz bewusst ironische Momente setzt, zeigt sich beispielsweise, wenn Chase Alex nebenbei eröffnet, dass sie gleichsam als Watson zu seinem Sherlock damit begonnen hat, über ihre gemeinsamen Fälle Bücher zu schreiben – also genau die Bücher, die wir seit 1989 ("Die Legende von Christopher Sim"/"A Talent for War") lesen. Oder wenn sie sich darüber ereifert, dass so viele tolle Bücher aus dem 21. Jahrhundert verloren gegangen sind und ausgerechnet eines über eine Raumpilotin namens Hutchins überdauert hat. Priscilla Hutchins ist natürlich die Hauptfigur von McDevitts zweiter Langzeit-Serie. Ein Quäntchen Humor schadet nie.
Gesamtbewertung: Good ol' Science Fiction, die Spaß macht.