Bild nicht mehr verfügbar.

Für viele Kleinkinder gehören der Umgang mit Tablets und die typischen Wischbewegungen zu den ersten motorischen Fähigkeiten, die sie mit den allgegenwärtigen mobilen Technologien lernen.

dpa / Michael Kappeler

Digitalexperte Gerald Lembke ist nicht gegen digitale Medien, aber: "Ich plädiere dafür, dass die Nutzung von digitalen Medien angepasst wird an das jeweilige Lebensalter und die kognitive Entwicklung."

Foto: privat / Gerald Lembke

STANDARD: Ausgerechnet Sie, der Professor für digitale Medien, haben etwas fast ketzerisch Anmutendes getan: Sie haben die Laptops aus dem Hörsaal verbannt. Warum?

Lembke: Ich habe die Computer nicht verbannt, sondern die Nutzung während der Vorlesung geregelt. Vorher war es so, wie man das an Hochschulen kennt: Der Student kommt rein, klappt seinen Laptop auf, macht damit etwas und merkt gar nicht, dass der Dozent bereits im Raum ist. In den letzten paar Jahren hat die Aufmerksamkeit der Studierenden auch in kleineren Kursverbänden, nicht nur in den großen Hörsälen, stetig abgenommen, weil die Ablenkungsmöglichkeiten durch digitale Medien so immens sind. Wir haben dann in einem langen Prozess eine Regelung gefunden, die da lautet, dass der Dozent auch rechtlich die Kompetenz hat, im Rahmen seines didaktischen Stils Computer zu erlauben oder nicht.

STANDARD: Wie reagierten die Studierenden auf diesen Entzug?

Lembke: Kurzfristig zeigten sie generell ein Unverständnis und sagten: Wieso, wir schreiben ja mit diesen Computern mit. Wir wissen aber, dass es bei einem Großteil nicht zur Mitschrift genutzt wird, sondern für Facebook, Snapchat und Ähnliches. Langfristig wurde es sehr positiv aufgenommen. Insbesondere die leistungsorientierten Studenten sind recht froh über die Regelung, weil Ruhe eingetreten und die Konzentration deutlich gestiegen ist. Und wir haben – verglichen mit einer Kontrollgruppe eines Parallelkurses – festgestellt, dass sich der Notendurchschnitt pro Semester um drei Zehntel verbessert hat.

STANDARD: Sie sprechen von "digitaler Ambivalenz". Warum?

Lembke: Auf der einen Seite bringen uns Smartphones, Tablets & Co ganz viel Freiheit und Autonomie. Wir können von jedem Ort zu jeder Zeit unsere Arbeit machen, E-Mails prüfen etc. Das ist fantastisch. Auf der anderen Seite entdecken wir, dass wir diese Technologien immer weniger beherrschen. Nicht wir beherrschen diese Technologien, das Smartphone beherrscht uns. Wir sehen, dass Erwachsene das Smartphone durchschnittlich drei Stunden pro Tag aktiviert haben und bis zu 150 Aktivierungen pro Tag machen, im statistischen Mittel eine Stunde nur für Facebook. Die Nutzungszahlen wachsen stetig. Wir haben in der Zielgruppe 13 bis 17 eine Nutzungsdauer von über sieben Stunden pro Tag. Das Smartphone ist in dieser Gruppe absolut unersetzlich und beherrscht das Leben der Jugendlichen. Das nenne ich ambivalent: Es ist fantastisch und ein Fluch zugleich.

STANDARD: Welche Schlüsse ziehen Sie daraus?

Lembke: Wir haben, seit das iPhone 2007 die mobile Revolution initiierte, immer noch nicht gelernt, damit als neues Kulturgut intelligent umzugehen. Da werden jetzt einige sagen: Ach, Junge, das ist doch nicht so schlimm, das wird schon. Das war beim Radio so und beim Fernseher auch. Ja, aber diese Vergleiche hinken, weil ein Fernseher war in den 1960er-Jahren nicht überall verfügbar. Heute ist ein Smartphone 24 Stunden sieben Tage die Woche verfügbar. Die Verführungen sind ganz andere, und man kann das mit Drogen vergleichen, die jederzeit verfügbar sind. Die, die den Umgang mit Stoffen wie Alkohol nicht gelernt haben, fallen leicht in eine Abhängigkeit. Gleiches sehen wir ja auch schon in der mobilen Mediennutzung.

STANDARD: Eine Ihrer Thesen lautet: "Der beste Start ins digitale Zeitalter ist eine Kindheit ohne Computer" – klingt idyllisch und nett, im Jahr 2016 aber illusorisch.

Lembke: Ich plädiere dafür, dass die Nutzung von digitalen Medien und mobilen Endgeräten angepasst wird an das jeweilige Lebensalter und die kognitive Entwicklung. Die ist bei Kleinkindern null vorhanden, um damit medienkompetent umzugehen. Es führt auch zu keinen positiven Effekten, wenn man versucht, diese Geräte im Kleinkindbereich bis sechs Jahre einzuführen mit dem doch so apologetischen Argument "Ja, je früher die damit spielen, umso medienkompetenter werden die." Alle Studien belegen das Gegenteil. Das gilt auch für das Schulalter ab sechs, sieben Jahren. Natürlich spielt der breitflächige Einsatz von digitalen Medien in unserer Gesellschaft eine wichtige Rolle, und ich will sie auch in keinster Weise verbieten, aber wir müssen Kinder dann damit konfrontieren, wenn sie in der Lage sind, diese Medien auch kritisch für sich selber zu bewerten.

STANDARD: Wann wäre das?

Lembke: Bis zehn, zwölf Jahre plädiere ich dafür, die reale Welt kennenzulernen und die basalen, kognitiven Qualifikationen, Rechnen, Schreiben, Lesen vernünftig zu lernen, den kritischen Umgang mit einem Printprodukt oder auch mit TV und Radio zu lernen und nicht auf dem Tablet.

STANDARD: Sie gehen so weit zu sagen: "Raus mit den Computern aus der Schule!" Sehen Sie überhaupt keine sinnvolle Verwendung für Digitaltechnologien in der Schule?

Lembke: Ich sehe immenses Potenzial des Einsatzes von Computern in Schulen und Hochschulen, aber ich sehe keinen positiven Sinn in Kindergärten und in der Schule bis zehn Jahre. Ich wehre mich vor allem dagegen, dass man unsere Schulen flächendeckend mit neuen Technologien vollstopft und Kinder sich irgendwie spielend und wischend auf diesen Plastikscheiben bewegen. Kinder haben eine unglaublich schnelle Lernfähigkeit, solche Geräte zu bedienen. Damit hat ein Kind vielleicht eine hohe Wischkompetenz, aber keine Medienkompetenz. Sicher gibt es da und dort Modellprojekte und Schulen, wo dann herausinterpretiert wird, Mensch, guck mal, was die Kinder Tolles machen, die können mit sieben Videos von Ameisen drehen. Das ist alles schön und nett, aber es ist Mittel zum Zweck, es darf niemals einen pädagogischen Prozess substituieren. Der Lehrer, der Pädagoge muss insbesondere in dieser Lerngruppe zwingend im Mittelpunkt des pädagogischen Lernprozesses stehen. Das kann ein Computer niemals machen.

STANDARD: Der Untertitel Ihres Buchs "Die Lüge der digitalen Bildung" heißt "Warum unsere Kinder das Lernen verlernen". Warum?

Lembke: Lernen heißt, dass ich mir Wissen und Information aneigne, die ich in meinem Kopf speichere, die sich an andere Informationen andockt. Wenn ich eine Sprache lerne, lerne ich ja nicht den kompletten Wortschatz von 50.000 Wörtern, sondern einzelne Wörter und dann immer weitere. Die digitalen Medien verhindern das, weil man denkt, das Wissen ist im Internet, ich brauche nichts mehr lernen und speichern muss ich schon gar nicht mehr, weil das finde ich ja alles bei Google und Co. Wir wissen in Deutschland, über 70 Prozent der Menschen kennen nicht die Telefonnummer ihres Lebenspartners. Sie ist ja gespeichert. Im Lernprozess exponiert sich dieses Phänomen. Ach, ich muss nicht schreiben, ich kann ja tippen. Ich muss nicht rechnen, es gibt eine App dafür, ich muss nicht lesen, weil die App liest mir den Text vor. Ich finde diese Entwicklung nicht positiv und plädiere dafür, dass diese grundlegenden Fähigkeiten der Auseinandersetzung mit der realen Welt wichtiger sind. Die virtuelle Welt bringt schon ihre Vorteile mit sich, aber sie darf die reale Welt nicht bestimmen. Wir müssen uns auch handlungskompetent einbringen. Die Virtualität lenkt uns davon massiv ab, weil wir in der virtuellen Welt ganz viel Entertainment und Flucht vor realen Problemen und eine schön gemalte Welt auf dem Handy haben. Damit können wir Erwachsene schon kaum umgehen, und Kinder schon gar nicht.
(Lisa Nimmervoll, 30.5.2016)