Eine NGO-Helferin und ein geretteter Migrant vergangenen Donnerstag im Hafen von Cagliari auf Sardinien.

Foto: AFP/GABRIEL BOUYS

Die Schlagzeile "Erneut hunderte Tote im Mittelmeer befürchtet" steht an einem Sonntagmorgen auf derStandard.at. Ich bin erschrocken. Aber nicht über die Schlagzeile, sondern über die Tatsache, dass ich beinahe einfach weitergesurft hätte, ohne mir die Nachricht anzusehen. Dabei habe ich an mich selbst einen Anspruch, den ich offensichtlich nicht erfüllen kann: Ich will nicht abstumpfen.

Wir verrohen. Erst dort Tote, dann da Ertrunkene, erst 19 Erstickte in einem Lkw, dann eine Kinderleiche. Schüsse da, Tränengas dort. Man hört in persönlichen Gesprächen mit Helfern und Flüchtlingen, dass Kinder und Erwachsene auch auf dem Landweg gestorben sein sollen. Irgendwann ist dann schon eine ordentliche Dosis Grausamkeit notwendig, damit sie uns aufrüttelt. Aber Bombentote, Kriegsmassaker und gekenterte Boote können uns kaum mehr erschüttern.

Schrecklichkeiten im Alltag

Die Entwicklung erfasst uns alle. Niemand ist davor gefeit. Offensichtlich auch ich nicht. Die Grenzen zwischen dem, "was geht", und dem, "was nicht geht", sind nicht nur in der innenpolitischen Auseinandersetzung verrutscht. Wir sind einer wirklichen Sintflut an Signalen und Informationen ausgesetzt, die uns anfänglich noch irritieren oder bewegen mögen, aber irgendwann würden uns dann tausende, zehntausende oder noch mehr Tote kaum mehr vom Schnäppchenangebot der Supermarktkette ablenken. Wir wollen beinhart zum "business as usual" zurück, und wenn das nicht geht, integrieren wir einfach die Schrecklichkeiten in unseren Alltag. So what. Der Schrecken über mich selbst. (Bernhard Jenny, 30.5.2016)