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Foto: Reuters/EPA/Hoang

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Prachtvolle Kiltu-Bäume ragen aus den sattgrünen Maisfeldern heraus, Ochsen ziehen stoisch den Pflug durch die Felder, und dahinter vollenden Umrisse der Hochlandschaften das pittoreske Bild. Äthiopien ist ein riesiges Land, nimmt man Frankreich, Deutschland und obendrauf Österreich, dann kommt man in etwa auf die gleiche Größe. Hier gibt es viele Orte wie jenen nahe Meki, an denen Romantiker ihre Sehnsucht nach einem fast schon kitschigen Afrikabild befriedigen können. Dass sich aber just dort eine humanitäre Katastrophe ereignet, ist auf den ersten Blick nicht ersichtlich – und das ist von den Behörden mitunter auch so gewollt.

In der Somali-Region im Osten des Landes ist das andere Gesicht Äthiopiens klar und deutlich erkennbar. Dieses Gesicht ist ausgehungert, ausgemergelt, einfach am Ende seiner Kräfte. Es manifestiert sich in der 52-jährigen Kadija Kalid Elle im Dorf Kurfasawa nahe der Stadt Chiro. Die hagere Frau, löchriges rot-gelb gestreiftes Kleid und pinkes Kopftuch, erzählt von ihrem Schicksal, das sie mit rund 18 Millionen Landsmännern und -frauen teilt.

Grafik: DER STANDARD

Seit zwei Jahren habe der Regen ausgesetzt – eine Folge des Klimaphänomens El Niño und verheerend für Äthiopiens Bevölkerung, die zu 80 Prozent aus Subsistenzbauern besteht, also Menschen, die allein davon leben, was sie ernten. "Davor war alles in Ordnung. Wir hatten Land, Schafe, Ziegen. Nun ist alles weg", sagt sie. Die Ernte zerstört, die Tiere verendet, die Vorräte zu Ende. Die Folge: die schwerste Hungerkrise im Land seit der sogenannten "Jahrhundertdürre" im Winter 1984/1985.

Damals, am 23. Oktober 1984, schockierte BBC die Weltöffentlichkeit: mit Bildern von sterbenden Säuglingen, von zu Skeletten abgemagerten Menschen. Doch als die Welt davon erfuhr, war es für viele schon zu spät. Die Mischung aus Dürre und dem Verhalten des äthiopischen Herrschers Haile Mengistu, der unter anderem Lebensmittellieferungen in Rebellengebiete blockierte, kostete letztlich fast eine Million Menschen das Leben.

Der BBC-Bericht vom 23. Oktober 1984 über die "biblische Hungersnot" in Äthiopien.
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Daran änderte auch die bis dahin weltweit größte Spendenaktion nichts, als Bob Geldof viele Künstler dazu brachte, im Rahmen des Projekts Band Aid ein Benefizlied zu singen: "Do They Know It’s Christmas?"

Das Benefizlied "Do They Know It’s Christmas?" aus dem Jahr 1984.
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Damit es diesmal nicht so weit kommt, wird in einem der staatlichen Gesundheitsposten in Kurfasawa versucht, die Auswirkungen der Dürre zu begrenzen. In einem schlichten dunklen Behandlungszimmer mit einem Holzregal voller Medikamente werden Kinder zwischen sechs Monaten und fünf Jahren mittels Messung des Oberarmumfangs auf Unterernährung untersucht. Es ist ein Kampf gegen die Zeit: Vor allem in diesem Alter können gesundheitliche Schäden entstehen, die womöglich nicht mehr behoben werden können.

450.000 Kinder unterernährt

Elles Enkel Hassen Ali Seid ist so ein Fall. Eingewickelt in ein purpurnes Tuch und festgeschnürt an der Brust der Mutter, wirkt er, als wäre er zwei oder drei statt der tatsächlichen zehn Monate alt. Mit Medikamenten und Nahrungsergänzungsmitteln versuchen die Regierung, das UN-Welternährungsprogramm (WFP) und NGOs wie die Caritas Österreich Äthiopiens Jüngsten eine gesunde Zukunft zu ermöglichen. Es ist eine Herkulesaufgabe: Laut Unicef leiden etwa 450.000 Kinder in Äthiopien an Unterernährung. In der Somali-Region, Krisengebiet Nummer eins im Land, sind zwei Drittel der Kinder von der Katastrophe betroffen.

Der zehn Monate alte Hassen Ali Seid und seine Mutter vor dem Gesundheitsposten in Kurfasawa. Dort wird der Oberarmumfang der Kinder gemessen – unter elf Zentimeter wird es kritisch. Dann gibt es Medikamente und Nahrungsergänzungsmittel.
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Die aktuelle Hungerkrise in Äthiopien hat gigantische Ausmaße angenommen. Und doch wurde und wird weiterhin versucht, sie gegenüber dem Rest der Welt kleinzureden. Auf der Rückfahrt von Kurfasawa nach Chiro interveniert der Leiter des Distrikts, hierzulande vermutlich der Bezirkshauptmann. Gelber Blazer, weißes Hemd und Pilotensonnenbrille am Kragen, will er Bilder über Hilfsprojekte in seinem Territorium beschlagnahmen – trotz Erlaubnis von der Zentralregierung in Addis Abeba.

"Er hat Angst, dass er mit der Berichterstattung über hungernde Menschen schlecht wegkommt", sagt Michael Zündel. Der Vorarlberger ist seit 19 Jahren für die Caritas Österreich in Äthiopien tätig – und kennt die Eigenheiten der Einheimischen. Der Intervention bleibt übrigens der Erfolg versagt.

Moderne Hauptstadt Addis Abeba

Das Verhalten der äthiopischen Behörden in der Hungerkrise ist sowieso ein eigenes Kapitel. Bezeichnend dafür ist Addis Abeba, die potente Hauptstadt mit ihren knapp vier Millionen Einwohnern, ihren Wolkenkratzern, ihren neuen Wohnsiedlungen am Rand und der von Chinesen erbauten elektrischen Straßenbahn – der ersten südlich der Sahara.

Ein Kiltu-Baum inmitten eines blühenden Maisfeldes nahe der Stadt Meki. Seit einigen Wochen regnet es wieder.
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Das ostafrikanische Land mit seinen knapp 100 Millionen Einwohnern erlebt einen Wirtschaftsboom, die Regierung von Premier Hailemariam Desalegn will in den nächsten zehn Jahren den Sprung zum Schwellenland mit mittlerem Einkommen schaffen. Eine Hungersnot kommt da gänzlich ungelegen – dementsprechend zögerlich verfuhr man anfangs auch mit ihr. "Im vergangenen Jahr war bereits Anfang September klar, wie groß die Krise ist. Doch es hat bis November gedauert, bis man sie offiziell eingeräumt und Hilfe angefordert hat", sagt Zündel.

In dieselbe Kerbe schlägt auch John Aylieff, WFP-Direktor in Äthiopien. "Einige in der Regierung meinten anfangs, es gebe keine Hungerkrise, andere wiederum sagten genau das Gegenteil. Für die Hilfsorganisationen war es schwierig – wie sollte man darauf reagieren?", so der Brite, der aber auch Verständnis dafür zeigt, dass das Land sein Stigma der 1980er-Jahre loswerden will. "Googeln Sie doch einfach mal 'Hungersnot' – die meisten Bilder stammen aus Äthiopien." Und bei aller Kritik hat Aylieff auch eine Menge Lob für die Regierung parat. "Äthiopien hat in der Vergangenheit sehr viel in den sozialen Bereich investiert, ein großes Netzwerk von Gesundheitsposten im ganzen Land aufgebaut. Und dieses Sicherheitsnetz hat jetzt funktioniert."

Dringender Bedarf von 400 Millionen Dollar

Außerdem hat Äthiopien 400 Millionen Dollar zur Bekämpfung des Hungers bereitgestellt – eine enorme Summe für einen afrikanischen Staat. Und die internationale Staatengemeinschaft hat bis Anfang Juni knapp eine Milliarde Dollar gespendet. Doch es gibt laut WFP einen dringenden Bedarf von weiteren 400 Millionen Dollar, um die Hilfe aufrechtzuerhalten. Und hier wartet schon das nächste größere Problem.

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Eindrücke von Addis Abeba. Äthiopiens Hauptstadt hat offiziell knapp vier Millionen Einwohner, inoffiziell wird von bis zu zehn Millionen gesprochen.
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Seit einigen Wochen regnet es endlich wieder, die so lange kargen Felder nehmen ein hoffnungsvolles Grün an. "Aber es ist noch lange nicht vorbei", so Aylieff. Zunächst einmal muss der Regen bis zur nächsten Ernte im Oktober und November anhalten. Und das dann auch in der richtigen Dosierung. "Durch El Niño sind die Regenfälle teilweise so stark, dass das Saatgut weggeschwemmt wird", so Zündel.

Außerdem, befürchtet Aylieff, könnten sich angesichts der leichten Verbesserung der Lage die großen internationalen Spender verabschieden, "bevor die Arbeit endgültig zu Ende gebracht wird". Dabei stehe jetzt noch einmal eine besonders kritische Phase bevor, so der Brite: "Die Zeit von Juli bis September ist traditionell immer besonders schwierig, weil bei vielen die Vorräte der letzten Ernte zu Ende gehen." Sofern man überhaupt eine hatte. (Kim Son Hoang aus Kurfasawa und Addis Abeba, 7.7.2016)