Jens Lubbadeh: "Unsterblich"
Klappenbroschur, 447 Seiten, € 15,50, Heyne 2016
Gelungenes Titelbild! Wirklich erstaunlich, was für eine ikonische Wirkung Marlene Dietrich hat, wenn schon die Kombination Wangenknochen + stählerne Locken ein unverwechselbares Bild erzeugt. Den Coverehren zum Trotz muss die große Diva allerdings die Schmach hinnehmen, dass sie in "Unsterblich" zwar eine Rolle spielt ... aber letztlich nur die eines MacGuffins.
Die gemischte Realität
Das Romandebüt des deutschen Wissenschaftsjournalisten Jens Lubbadeh zeichnet eine 2044 angesiedelte Welt, in der Technologien zur Erzeugung augmentierter Realitäten eine Blended Reality erschaffen haben. Jeder trägt – gesetzlich vorgeschrieben – ein NeurImplant im Kopf, das digital versandte Bild- und Tondateien mit Wahrnehmungen aus der echten Umgebung zu einem Ganzen verschmilzt. Darum leben die Toten mitten unter uns, ob dahingeschiedene Angehörige oder historische Berühmtheiten: Denn für ein hübsches Sümmchen kann jeder aus Daten – von biometrischen Aufzeichnungen bis zu Film- und Tondokumenten – digital rekonstruiert und "immortalisiert" werden.
Dadurch hat sich eine Art All-Star-Welt herausgebildet: An der Spitze der beiden Supermächte stehen einander John F. Kennedy und Deng Xiaoping gegenüber, die Hitparaden dominieren abwechselnd die Beatles und Michael Jackson (jeweils mit brandneuen Songs, versteht sich). Und Pablo Picasso oder Steve Jobs sind auch wieder dick im Geschäft. Zugleich – zumindest in diesem Punkt hat Lubbadeh sein Szenario gut durchdacht – hat das zu einer gewissen Stagnation geführt. Es passiert einfach nichts grundlegend Neues mehr, stattdessen liefern die Ewigen nur noch Variationen desselben.
Klare Verhältnisse
Die Vermischung von Realitäten könnte einen überaus kniffligen Einstieg ergeben, wie ihn Hardcore-SF-Fans lieben und wie er MainstreamleserInnen davon abhält, zu SF-Fans zu werden: Also einen, bei dem wir uns erst mal alle Mühe geben müssen, uns in einer Welt komplexer und widersprüchlicher Eindrücke zu orientieren – denken wir etwa an Matthew de Abaitua, in dessen Werken digitale und körperliche Welt ebenfalls ineinander übergehen.
Aber Lubbadeh ist eher ein Anti-Abaitua: Kurze Sätze, klare Verhältnisse, so seine Formel. Wir wissen vielleicht nicht, wie die Geschichte ausgeht – aber wir können uns immer sicher sein, wo wir gerade stehen. In seiner Tendenz zum Übererklären und lieber auf Nummer sicher zu gehen, kann sich Lubbadeh dabei durchaus mal seine eigene Pointe verderben: Wenn beispielsweise beschrieben wird, wie Ewige und echte Menschen unterschiedlich auf Befragungen reagieren, dann hätte man die Ähnlichkeit zum Voight-Kampff-Test aus "Blade Runner" (respektive Philip K. Dicks "Träumen Androiden von elektrischen Schafen?") auch bemerkt, ohne dass dies anschließend explizit ausgesprochen wird.
Es wird kriminell
Solche Befragungen sind das tägliche Brot der Hauptfigur Benjamin Kari. Er arbeitet für das Unternehmen Fidelity, das die "Echtheit" von Ewigen – soll heißen: ihre Originaltreue – zertifiziert und billige Raubkopien entlarvt. Eines Tages allerdings findet sich Benjamin unverhofft in die Rolle eines Detektivs gedrängt: Der (es heißt immer "der") Ewige Marlene Dietrichs ist verschwunden. Wurde die Dietrich entführt? Hat sie sich selbst abgesetzt? Ist sie gar im Leben nach dem Tod noch einmal gestorben? Um das herauszufinden, reist Benjamin aus dem heimischen Los Angeles nach Deutschland, erst nach Hamburg und dann nach Berlin.
Vom Plot her ist "Unsterblich" ein Politkrimi, und als solcher funktioniert der Roman auch sehr gut. Benjamin hangelt sich zusammen mit der zielstrebigen Reporterin Eva Lombard von Clue zu Clue weiter, während sich Zeugenaussagen über seltsame Verhaltensweisen der Dietrich häufen ... und die Zeugen anschließend auffallend oft aus dem Leben scheiden. Verdächtige gibt es auch genug: Etwa die Thanatiker (eine Organisation, die gegen die Immortalisierung ist) oder den so richtig gar nicht einschätzbaren Whistleblower Reuben Mars, der die Welt mit seinen Insiderinfos zum Immortalisierungsprozess schockt. Als Benjamin der "Fall" entzogen werden soll, ermittelt er auf eigene Faust weiter – und irgendwann beginnt sich abzuzeichnen, dass er es hier mit etwas Größerem zu hat.
Das ist spannend erzählt und wird – ein weiteres Positivum! – in der zweiten Hälfte grimmiger, als man zunächst gedacht hätte. Außerdem hat die Angelegenheit für Benjamin noch eine höchst persönliche Seite: Auch seine Frau wurde nämlich nach ihrem Unfalltod immortalisiert. Da man den Ewigen aber alle Erinnerungen an ihren Tod sperrt und Benjamin an dem Unfall mitbeteiligt war, erkennt sie bzw. ihr Ewiger ihn nicht mehr. Benjamin wurde kurzerhand aus dem Leben seiner großen Liebe herausredigiert: Potenzial für großes Human Drama, das durchaus noch mehr genutzt hätte werden können.
Ungereimtheiten
Damit sind wir aber schon bei den weniger geglückten Teilen des Buchs, und die haben alle mit dem Worldbuilding zu tun. Ewige sind weit verbreitet, und ihre Angehörigen wissen, dass das Thema Tod für sie ein blinder Fleck ist. Es sollte also die Welt nicht wie ein Blitz aus heiterem Himmel treffen, dass die digitalen Persönlichkeiten manipulierbar sind. Überhaupt stellt sich die Frage, warum jemand über Jahre hinweg auf die "Unsterblichkeit" hinsparen sollte, wenn er nach seinem Tod im Grunde nichts anderes als ein besseres Programm und eine Serviceleistung für seine Hinterbliebenen ist; eine eigene Persönlichkeit haben die Ewigen ja laut Lubbadeh nicht. Und wenn die digitale Dietrich mal kurz als Leuchterscheinung auch in der realen Welt zu sehen ist, dann gibt es keine Codeänderung, die das ermöglichen würde – das ist einfach nur Magie.
Anders als an ihre KollegInnen aus der Krimibranche wird an SF-AutorInnen ja auch die Anforderung gestellt, eine plausible Welt aus dem Boden zu stampfen. Das glückt Lubbadeh in zwei weiteren wichtigen Punkten nicht, und beide haben mit der Zahl 1 zu tun: So gibt es nur einen Konzern, der die zentrale Technologie des Romans in Händen hält. Das wäre ein typisches Szenario für SF-Filme (siehe etwa "Surrogates", "The Island" oder "The 6th Day"), die in der Regel etwas simpler gestrickt sind als SF-Romane. Denn so etwas schreit geradezu danach, dass am Ende der Geschichte eine Lösung auf Knopfdruck kommt. Aber so einen zentralen Knopf gibt es schon in unserer Welt nicht – warum also sollte es in einer noch komplexeren Zukunftswelt einen geben?
Ein Stück weiterdenken
Zweitens, vielleicht noch wichtiger: Ähnlich wie in beispielsweise Bruce McCabes "Unfehlbar" mit seinen Hightech-Sexpuppen haben wir es auch bei Lubbadehs Blended Reality mit einer Hochtechnologie zu tun, die offenbar nur einem Zweck dient: Abbilder von Menschen zu erschaffen. Ansonsten schwebt sie in einem wahren Anwendungsvakuum. Mal kurz überlegt, wozu sie noch genützt werden könnte: Verkehrszeichen und Straßenschilder. Werbung. Alle Arten von Infos, die zu real existierenden Gegenständen eingeblendet werden. Alleine schon die Kosten, die sich einsparen ließen, wenn man keine feststofflichen Trägermedien mehr produzieren müsste, lassen es äußerst unwahrscheinlich wirken, dass die Blended Reality in Lubbadehs Welt nirgendwo sonst zum Einsatz kommt. Wer weiß, vielleicht könnte man sogar auf Straßenbeleuchtung verzichten – gäbe doch ein cooles Bild ab, wenn Vögel und Insekten von Lichtverschmutzung unbehelligt über dunkle Städte ziehen, die für deren BewohnerInnen strahlend hell sind, weil sie ihre Implantate wie Nachtsichtgeräte nutzen können.
... und das ist wohl nur ein Bruchteil dessen, was einem Ramez Naam ("Nexus") zum Thema eingefallen wäre. Um eine ähnlich glaubwürdige SF-Welt zu schaffen, müsste Lubbadeh seine Ideen einfach nur etwas konsequenter weiterdenken. Immerhin: Einige davon sind wirklich gut, und die Krimi-Handlung sitzt ohnehin. Gibt in Summe ein lesenswertes Buch mit Luft nach oben – vielleicht nutzt Lubbadeh das Potenzial ja in weiteren Bänden aus der Welt der Ewigen.