Erdoğan verkündet am Mittwoch nach einer Sondersitzung des Nationalen Sicherheitsrats den Ausnahmezustand.

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Nach dem vereitelten Putschversuch in der Türkei spricht die AKP von einem Sieg der Demokratie. Die Realität sieht aber anders aus. Die Verhängung des Ausnahmezustands, die Entlassung von mehr als 67.000 Menschen, das Ausreiseverbot für alle Akademiker des Landes, das Blockieren der Wikileaks-Seite, um der Veröffentlichung der AKP-Mails entgegenzuwirken, das sind nur einige der drastischen Maßnahmen der vergangenen Tage.

Erdoğans Demokratieverständnis

Schon vor langer Zeit hat Präsident Recep Tayyip Erdoğan offen in einem mittlerweile weithin bekannten Zitat sein Demokratieverständnis in Worte gefasst: "Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufsteigen, bis wir am Ziel sind. Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Schwerter, die Kuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten." Ist für Erdoğan nun endgültig der Zeitpunkt gekommen, vom Demokratiezug abzuspringen?

Natürlich nicht. Die Türkei war wohlgemerkt auch vor dem Putschversuch nicht demokratisch im "westlichen" Sinn. Der Völkerrechtler Ralph Janik klassifizierte sie etwa unlängst als illiberale Demokratie: Die Regierung genießt zwar die Zustimmung der Bevölkerungsmehrheit, schränkt aber viele Menschenrechte oder auch das Prinzip der Gewaltenteilung ein. Andere gehen sogar eine Spur weiter und umschreiben die Türkei als eine De-facto-Diktatur.

Die Botschaften nach dem Putschversuch

Die regierende AKP sieht das natürlich anders und feiert das Scheitern des Putschversuchs als Sieg der Demokratie. Ganz Istanbul ist voller Plakate mit Sprüchen wie "Das Recht geht vom Volk aus" und "Die Leute werden sich nicht beugen, die Türkei wird nicht verlieren", Zweiterer mit einem Bild von Erdoğan versehen. Auch die öffentlichen Verkehrsmittel sind voller Banner, die eine Botschaft über den Putschversuch vermitteln sollen. Die Bilder von getöteten Polizeibeamten werden nach der Reihe in den Werbeanzeigen der U-Bahn eingeblendet.

Übrigens war die Benutzung der U-Bahn und aller anderen Verkehrsmittel drei Tage lang gratis; die AKP wollte damit bezwecken, dass ihre Wählerschaft die Plätze besetzt und so gegebenenfalls den Putsch auch langfristig vereitelt. Ebenso konnte man in den öffentlichen Verkehrsmitteln einen äußerst vielsagenden, zwei Jahre alten Werbespot aus Erdoğans Präsidentschaftswahlkampf sehen. Auch der staatliche – und offiziell parteiunabhängige – Fernsehsender TRT zog mit und zeigte den umstrittenen Werbespot ebenfalls. Der Fernsehsender wurde schon damals wegen undemokratischen Vorgehens in dieser Sache kritisiert, denn er widmete 305 Minuten am Tag Erdoğan und ganze null Minuten den anderen beiden Kandidaten.

Die religiöse Symbolik

Über die religiöse Symbolik der Nacht des 15. Juli wurde kaum geschrieben. Zweifelsohne war der Hauptslogan der Demonstrationen "Allahu ekber" (Gott ist größer). Mehr als demokratische wurden religiöse Werte angesprochen. Mit voller Lautstärke wurde durchgehend gebetet. Allerdings kein normales Gebet, sondern eines, das als "Salāt" bezeichnet wird. Dieses Gebet wird eigentlich vermehrt bei Begräbnissen gesprochen.

Neben Erdoğans Facetime-Auftritt galten die Moscheen als Hauptmotivatoren der Demonstranten. Die Moscheen der Stadt Istanbul sind schon lange keine reinen Gebetshäuser mehr, vielmehr sind sie eng mit der Regierung verbunden. Diese Entwicklung verstärkte sich mit dem Amtsantritt von Mehmet Görmez als Leiter des Amts für Religionsangelegenheiten. Ibrahim Olgun, der neue Chef der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich, war übrigens für ein Semester Görmez' Schüler, wie er im "Kurier"-Interview sagte.

Am Mittwoch sprach Görmez auch im Fernsehen über den Putschversuch. Seine Worte entsprachen der Linie der Regierung und Erdoğans. Die zuvor eher formelle Position wurde unter ihm wesentlich aktiver ausgelegt, sein Auftreten sorgt im Amt für Religionsangelegenheiten regelmäßig für Kontroversen (erst unlängst etwa anlässlich einer kontroversiellen Fatwa zur Inzucht, die Görmez mit einem Übersetzungsfehler begründete).

Das Gewaltpotenzial

Bilder unzähliger Gewaltakte bei den Protesten gegen den Putsch gehen um die Welt. Diese Handlungen lassen sich zum einen dadurch erklären, dass auch die Putschisten alles andere als zimperlich waren, haben aber auch mit der Polarisierung der Gesellschaft zu tun. Erdoğans langjährige Polarisierungsstrategie hat einerseits der AKP eine sehr loyale Stammwählerschaft beschert, andererseits aber auch zu viel Hass innerhalb der Gesellschaft geführt.

Wie groß der Hass der Erdoğanisten auf die Gülenisten ist, zeigt sich anhand eines riesigen Plakats im Zentrum von Istanbul. Der ehemals hochgelobte Prediger wird als "Satans Hund" bezeichnet, und ihm sowie seinen Anhängern wird mit dem Aufhängen gedroht. Dieser Hass stellt wohl die Spitze des Eisbergs dar, gleichzeitig handelt sich hierbei um nur zwei von vielen auf das Bitterste verfehdeten Fraktionen. Der Mann, der sich oft als Vereiniger des Landes gibt, hat es geschafft, das Land mehr zu spalten als jede Person vor ihm. (Tuna Bozalan, 22.7.2016)