Die Digitalisierung ist unaufhaltbar, auch in der Medizin. Die genetischen Erkenntnisse läuten eine neue Ära der Individualisierung ein. Das stellt Etabliertes infrage, verändert Diagnostik und Therapie.

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Ursula Schmidt-Erfurth ist Vizepräsidentin des Europäischen Forums Alpbach und Vorsitzende der Gesundheitsgespräche. Sie leitet die Augenklinik an der Med-Uni Wien.

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STANDARD: "Neue Aufklärung" ist das Generalthema des heurigen Forums Alpbach. Wie passt der Begriff in die Medizin?

Schmidt-Erfurth: Wenn es um die Gesundheit geht, ist Aufklärung ein großes Thema. Patienten sollen verstehen, welche Krankheit sie haben, sollen aktiv auf ihre Gesundheit achten. Doch wir stehen in der Medizin an einem Wendepunkt, an dem sich die Dinge gerade noch einmal massiv verändern.

STANDARD: Wie genau?

Schmidt-Erfurth: In den letzten 20 Jahren ist der Computer als Werkzeug in der Medizin immer wichtiger geworden. Wir haben tausende neue Erkenntnisse zur Genetik des Menschen. Durch die digitale Bildgebung bekommen wir Informationen, die das menschliche Auge niemals erfassen könnte. Unser Wissen hat sich damit vervielfacht.

STANDARD: Sie sind Augenärztin. Können Sie ein Beispiel geben?

Schmidt-Erfurth: 200 Millionen Menschen in der industrialisierten Welt sind so stark von Sehverlust betroffen, dass sie die Fähigkeit für ein selbstständiges Leben verlieren. Die meisten haben Netzhauterkrankungen, altersbedingt aber auch durch zunehmenden Diabetes. Die Forschung hat erreicht, dass Laserscanner zusammen mit "lernenden Computern" frühzeitig erkennen, ob jemand Gefahr läuft, zu erblinden, und mit einer Therapie gegensteuern. Durch diese neue Technologie konnten Erblindungen bereits auf ein Viertel reduziert werden.

STANDARD: Werden Computer bald Ärzte ersetzen?

Schmidt-Erfurth: Nein, er ermöglicht nur Zugang zu neuen Erkenntnissen. Wir haben in den letzten Jahrzehnten eine Vielzahl an neuem Wissen zur Genetik gesammelt, das sich als Daten darstellen lässt, wir haben viele neue Erkenntnisse durch die digitale Bildgebung. Auch das sind Daten. Jetzt geht es darum, diese vielen Daten zusammenzuführen.

STANDARD: Inwiefern?

Schmidt-Erfurth: Die Grundfrage ist: Mit welcher genetischen Disposition findet welche Veränderung in den Organen statt. Nur der Arzt kann Zusammenhänge in Daten finden. Er hat eine Schlüsselfunktion.

STANDARD: Sehen Sie in der Idee vom gläsernen Menschen eine Gefahr?

Schmidt-Erfurth: Technik ist Fortschritt und wird sich nicht aufhalten lassen. Wir werden in Alpbach aber die ethische Dimension diskutieren. Wie gehen wir mit dem neuen Wissen um? Was bedeutet die Vorhersagbarkeit einer Erkrankung? Sollen und wollen wir Risikos wissen? Wer verfügt über Daten und was, wenn Versicherungen uneingeschränkten Zugriff haben?

STANDARD: Ja, was ist dann?

Schmidt-Erfurth: Medizinische Daten dürfen auf keinen Fall zur Stigmatisierung und Ausgrenzung führen. Da muss es neue Modelle und Verantwortlichkeiten geben, über die diskutiert werden sollte.

STANDARD: Krankheit als selbst verschuldetes Schicksal macht Angst.

Schmidt-Erfurth: Der Lebensstil spielt bei bestimmten Erkrankungen eine Rolle – etwa Nikotin und Herzkreislauferkrankungen, da besteht ein direkter Zusammenhang. Es gibt aber auch viele alte Mythen, die infrage zu stellen sind.

STANDARD: Welche Mythen?

Schmidt-Erfurth: Der Body-Mass-Index (BMI) zum Beispiel. Dick ist krank und schlank ist gesund, das war die etablierte Meinung und der BMI der diesbezügliche Richtwert. Dabei zeigen neue Studien, dass kompaktere Menschen durchaus gesünder sein können als gertenschlanke. Oder Fleisch macht krank, auch ein Mythos. Nicht Fleisch, sondern die Massentierhaltung macht krank, dazu wird es einen Vortrag geben. Gesundheit betrifft alle Lebensbereiche.

STANDARD: Gilt das auch für andere Grenzwerte und Leitlinien?

Schmidt-Erfurth: Natürlich muss es Leitmesswerte als Orientierung geben, wir lernen aber gerade, dass jeder Mensch ein eigenes genetisches Grunddesign hat und deshalb anders funktioniert. Derzeit versucht man Biomarker zu finden, um Therapie stärker zu individualisieren. Wir sind in einer Übergangsphase. Aber beim Dekonstruieren alter Wahrheiten wird Neues oft auch überbewertet, das ist die Dynamik von Wissenschaft. (Karin Pollack, 30.7.2016)