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Foto: Touchstone Research

Ein Smartphonespiel hat sich wohl unumstritten zum Sommerphänomen dieses Jahres gemacht. "Pokémon Go" bewegt die Spieler – auch im wortwörtlichen Sinne. Wer mitmischen will, muss sich nach draußen wagen.

Und das sieht man in diesen Tagen ganz deutlich. Zumindest in den größeren Städten flanieren auffällige Menschengruppen auf der Monsterjagd durch Straßen und Parks. Verlässliches Kennzeichen: Das Smartphone im Anschlag und meist ein angestecktes Ladekabel, das in die Hosentasche zu einem Zusatzakku führt.

"Pokémon Go" ist (fast) überall

Der Hype hat beeindruckende Ausmaße angenommen. Tausende nahmen an einer "Pokémon-Party" im Wiener Stadtpark teil. Menschen hielten nahe dem New York Central Park ihre Autos an und stürmten en masse das öffentliche Grünland, um ein seltenes Monster zu erhaschen, das eigentlich nur auf ihrem Smartphone und den Servern der Entwickler existiert. Und rund um die Welt wird von lustigen, skurrilen, aber mitunter auch gefährlichen Zwischenfällen in Zusammenhang mit dem Game berichtet.

Die Medien sind voll von "Pokémon Go", selbst jene, die sich sonst selten dem Thema Games widmen. So voll, dass sich selbst manche Leser des GameStandard – immerhin ganz und gar der digitalen Unterhaltung verpflichtet – das für diese Zeit sonst übliche Sommerloch herbeiwünschten. Doch wie lange werden Begeisterung und Interesse rund um das Augmented-Reality-Erlebnis noch anhalten?

Geringe Spieltiefe

Die Antwort auf diese Frage liegt fast ausschließlich in der Hand der Entwickler. Das Spiel selbst bietet eigentlich sehr wenig Interaktionsmöglichkeiten. Monster lassen sich fangen und aufleveln. Kämpfe finden nur in Arenen statt, und die Mechanik dahinter hat kaum noch etwas mit den taktischen, rundenbasierten Auseinandersetzungen des Originalspiels zu tun. Auch mit anderen Trainern kann man sich nicht direkt messen. Zusatzfunktionen wie eine Tauschmöglichkeit für gefangene Pokémon fehlen immer noch.

Foto: derStandard.at/Pichler

Drei Zutaten des erfolgreichen Starts

Drei Aspekte bescheren "Pokémon Go" aktuell seinen großen Erfolg. Der erste ist der bekannte Name, den gleich mehrere Generationen an Spielern mit nostalgischen Erinnerungen verbinden können. Denn immerhin ist die Monsterwelt bereits 20 Jahre alt, neben den Spielen gibt es eine TV-Serie, Kinofilme, Sammelkarten und allen erdenklichen Merchandise.

Die zweite Zutat ist der Sammeltrieb. 151 Monster, jene aus der ersten Gameboy-Generation von "Pokémon", gibt es aktuell in der Handy-Umsetzung. 145 davon können regulär gefangen werden, die restlichen sechs dürften wohl im Rahmen von Events zu schnappen sein. Während manche die Spieler praktisch an jeder Ecke anspringen, tauchen andere Monster nur sehr selten auf und sind entsprechend begehrt. Was schon bei Panini-Stickern seit Jahrzehnten Erfolg hat, funktioniert auch in Videospielen bestens.

Der dritte Erfolgsfaktor ist die soziale Komponente. Spieler organisieren sich in ihren drei Teams und erobern gemeinsam Arenen. Abseits von den festgelegten Kampforten zahlt sich aber Kooperation aus. Lockmittel in den sogenannten Pokéstops helfen allen Spielern, egal welcher Fraktion. Und wo mehr Monsterjäger unterwegs sind, erscheinen auch generell häufiger Monster. Wer einmal auf Basis des Spieles als gemeinsames Interesse freundschaftliche Bande mit anderen Menschen geknüpft hat, kehrt dem Game auch nicht mehr so leicht den Rücken. Im Prinzip ist das Game auch eine Art Social Network.

Foto: Rebell.at

Galgenfrist

Wenngleich es schon Zeichen des Abflauens gibt – in den USA soll die Zahl der Spieler laut Survey Monkey nach einem einwöchigen, kometenhaften Aufstieg wieder langsam zurückgehen –, bewirken diese Faktoren, dass auch in ein paar Monaten "Pokémon Go"-Spieler das Straßenbild in den Metropolen mitprägen werden, fast egal, was sonst rund um das Spiel geschieht. Richtet man den Blick aber auf 2017, so liegt die Aufrechterhaltung des großen Erfolges in den Händen der Entwickler.

Ob Niantic dieser Aufgabe gewachsen ist, darf zumindest bezweifelt werden. Inhaltlich gibt es freilich noch genug Nachschub, den man liefern kann – immerhin kennt die Fauna der Pokéwelt noch rund 600 weitere Monster, die auf dem Smartphone noch nicht entdeckt werden können. Was die Weiterentwicklung des Spielprinzips angeht, lehrt zumindest die Vergangenheit nichts Gutes.

Rückblick auf "Ingress"

"Pokémon Go" ist nicht das einzige Augmented-Reality-Game von Niantic. Seit drei Jahren betreibt man auch "Ingress", das weltweit etwa eine Million aktive Spieler hat. Wenngleich der Hersteller fleißig kompetitive Events, sogenannte Anomalien organisiert, lief die Kommunikation mit und Berücksichtigung der Community in vielen Fällen nicht gerade vorbildlich.

In "Ingress" kämpfen zwei Fraktionen, "Enlightened" und "Resistance", um die globale Vorherrschaft. Im Spiel können Portale erobert und nach bestimmten Regeln zu Feldern vernetzt werden. Für die Planung großer Feldaktionen, die mitunter schon globale Ausmaße angenommen haben, müssen die Teilnehmer auf Kartentools zurückgreifen. Diese zeigen die Lage der Portale, Verbindungen und Hürden auf dem Weg zu den gewünschten Feldern.

Mit der "Intel Map" bietet Niantic selbst eine Umsetzung an. Diese zeigt jedoch technische Schwächen, und selbst rudimentäre Planungswerkzeuge wurden erst nach jahrelangem Aufbegehren der Spielerschaft integriert. Diese griff und greift daher auf alternative Angebote zurück, die Niantic meist stillschweigend toleriert, offiziell aber verbietet. Mitunter wurden aber doch immer wieder Spieler für ihre Verwendung bestraft. Mit regelmäßigen Änderungen auf technischer Seite wurde der Betrieb der Alternativ-Maps zudem regelmäßig eingeschränkt.

Foto: derStandard.at/Pichler

Die Geschichte wiederholt sich

Ein Muster, das sich bei "Pokémon Go" früh wiederholt hat. Das Spiel bot von Beginn an einen recht ungenauen Mechanismus zum Aufspüren von in der Nähe befindlicher Umgebungen. Ähnlich einer Heiß-kalt-Anzeige musste der Spieler ausloten, in welche Richtung er sich bewegen musste, um zum gewünschten Monster zu finden. Eine unbefriedigende Implementierung, die zudem bald aufgrund eines Bugs unbrauchbar und mittlerweile komplett entfernt wurde.

Wenig überraschend also, dass Fan-Entwicklungen wie Pokévision sich bald hoher Beliebtheit erfreuten. Pokévision analysierte die Kommunikation zwischen den Niantic-Servern und den Spielern und ermittelte damit aktuelle Monsterstandorte, die auf einer Karte verzeichnet wurden. War ein begehrtes Tier in der Gegend, konnte der Dienst exakt zeigen, wo es zu finden war. Auf Betreiben von Niantic liegt das Projekt derzeit auf Eis. Auch gegen anderen Alternativ-Maps geht man vor, folglich muss man sich ob der Position von Pokémon in der Umgebung derzeit auf ein Ratespiel einlassen.

Lichtblick: Eine neue, eigene Lösung ist bereits im Testbetrieb. Ob und wann sie kommt, oder ob sie die Spielerschaft zufriedenstellen wird, muss sich erst weisen.

Cheater-Problem

Gleichzeitig floriert der Handel mit Nutzerkonten, auch weil die Absicherungsmechanismen gegen Cheating offenbar völlig unzureichend sind. Geschäftstüchtige Cheater können ohne viel Eigenaufwand neue Trainerkonten kreieren und automatisiert an jedem beliebigen Ort auf die Jagd nach Monstern und Erfahrungspunkten schicken, ohne auch nur den Schreibtisch verlassen zu müssen.

Was hinsichtlich des Sammelaspekts nur mäßig relevant ist, nimmt bei den Arenen Einfluss auf das Erlebnis anderer Spieler. Wer in einer wenig bespielten Gegend wohnt, steigt langsamer auf und hat auf absehbare Zeit keine Chance, auf faire Art und Weise die starken Pokémon der Cheater in seinen lokalen Arenen zu besiegen.

Immerhin gibt es auch hier Hoffnung: Vor kurzem hat Niantic begonnen, die Zügel gegen Cheater etwas anzuziehen.

Foto: Rebell.at

Langfristig lukrativ

Ist die Entwicklungsdauer neuer Features und der Umgang mit Communitywünschen bei "Ingress" ein Indikator für die Zukunft von "Pokémon Go", dann wird das Spiel spätestens nächstes Jahr einen deutlichen Abstieg hinlegen.

Was, wohlgemerkt, immer noch nicht heißt, dass aus "Pokémon Go" schnell ein Verlustgeschäft würde. Auch mit weniger Hype und Spielern wird die Smartphone-Monsterjagd für alle Beteiligten zumindest ein paar Jahre lang ein lukratives Geschäft sein. Auch von anderen Free2Play-Blockbustern wie "Candy Crush" hört man dieser Tage nicht mehr viel, trotzdem spülen sie immer noch hunderte Millionen Dollar pro Jahr in die Kassen ihrer Hersteller.

Die muntere Monsterjagd soll in ihrem ersten Monat bereits 200 Millionen Dollar in die Kassen von Herstellern, Lizenzgebern und Appstore-Betreiber gespült haben, analysiert Sensor Tower. Zuletzt ließ der offizielle Start im "Pokémon-Heimtland" Japan die Einnahmenkurve deutlich nach oben schnellen.

Innovativer Pionier oder "einer von vielen"?

Dass man das Momentum möglichst lange am Laufen hält, ist aber auch aus einem anderen Grund wichtig für Niantic. Im Moment hat man, auch wenn "Ingress" nicht das erste Spiel dieser Art war, eine Art Pionierrolle im Bereich des Augmented-Reality-Gamings eingenommen und dieses nun mithilfe von Nintendos bunten Monstern aus der Nische geführt.

Erfolg erzeugt Nachahmer, bald werden andere Hersteller mit ähnlichen Spielkonzepten und manchen großen Marken im Hintergrund nachziehen. Nur mit Mut zu regelmäßigen inhaltlichen Neuerungen und Innovation im Gamedesign werden die Entwickler von "Pokémon Go" sicherstellen können, dass ihr Spiel in Zukunft nicht nur "eines von vielen" ist. (Georg Pichler, 12.8.2016)