Der Tastsinn wird oft unterschätzt. Er ist omnipräsent, bestimmen unsere Selbstwahrnehmung. Berührungsdefizite machen krank.

Illustration: Blagovesta Bakardjieva

Es fühlt sich seltsam an, wenn einem Patrick Mayrhofer die Hand schüttelt. Die Höflichkeit lässt einen weiter fest in seine Augen blicken, doch irgendetwas ist anders – härter vielleicht oder eckiger. Doch Begrüßungen sind immer schnell wieder vorbei, der Blick fällt auf den Besprechungstisch, auf dem eine Hand steht. Sie sieht wie eine futuristische Skulptur aus. "Die Michelangelo-Hand ist unser High-End-Produkt", sagt Mayrhofer stolz.

Er ist Produkttrainer bei Otto Bock Healthcare Products, Weltmarktführer in Prothesen mit Sitz im elften Bezirk in Wien, ein großer grauer Gebäudekomplex direkt an der A21. Umströmt von einem steten Fluss an Autos, wird hier die derzeit funktionsstärkste Armprothese weiterentwickelt: vier Funktionen, eingebauter Drehmotor und ein Softwareprogramm, das Bewegungen erahnen kann.

"Wollen Sie die Hand probieren?", fragt Mayrhofer, 28 Jahre, blond und selbstbewusst. Als er sich an den Laptop setzt und sein Passwort eintippt, findet auch die haptische Irritation bei der Begrüßung eine Erklärung. Mayrhofer trägt an der linken Hand selbst diese Prothese. An der rechten Hand fehlt ihm der halbe Ringfinger, sein Arzt hat daraus den fürs Greifen so wichtigen Daumen gemacht. Vor mittlerweile acht Jahren hatte der Elektrotechniker einen Stromunfall.

Haut und Hirn

"Unsere Nerven bilden ein geschlossenes System, das Gehirn realisiert lange nicht, wenn ein Körperteil wie die Hand plötzlich fehlt", erzählt er und beschreibt die Phantomschmerzen nach seinem Unfall. Die Nervenbahnen schickten weiter Signale, die jedoch ins Leere gingen, es bildeten sich schmerzende Neurome im Gewebe am Armstumpf. "Ich hatte keinen Daumen mehr, doch es fühlte sich an, als ob er im Schraubstock steckte", erzählt er. Rechts seien die Schmerzen nach drei Monaten vorbei gewesen, links erst, als die durch den Unfall funktionslos gewordene Hand amputiert wurde.

"Mein Gehirn hat dann auf Prothese umgelernt", sagt Mayrhofer, der gehört hat, dass das Gehirn erst nach 30.000 Wiederholungen Bewegungsabläufe wirklich verinnerlicht. "Das könnte hinkommen", sagt der junge blonde Mann, der einer der ersten Michelangelo-Handanwender wurde. Vor zwei Jahren hat er ein Jobangebot von Ottobock als Produkttrainer bekommen. Seine Prothese ist ein weiß transluzenter Handschuh, "weil mir die Hautoptik bei Prothesen persönlich nicht gefällt", sagt er, während er Elektroden am Unterarm seines Gegenübers anbringt. Eine wird an der Oberseite des Unterarms kurz unterhalb des Ellenbogens angeklebt, eine andere parallel an der Unterseite. Dort finden die Muskelkontraktionen statt, die auch bei Gesunden die Hände bewegen, erklärt er.

"Stellen Sie sich jetzt vor, Sie biegen die Hand nach oben, aber bewegen Sie die Hand nicht", sagt Mayerhofer. Und tatsächlich: Nur der Gedanke ans Aufwärtsbiegen verursacht ein Muskelzucken. Wie magisch öffnet sich die Prothese am Schreibtisch. "Denken Sie jetzt ans Nach-unten-Biegen!", instruiert Mayrhofer mit ruhiger Stimme. Die Prothese schließt sich wieder – durch Gedankenkraft, die Impulse sendet.

Exaktes Greifen

Wenn Mayrhofer, dessen Arm unterhalb des Ellenbogens vom Strom verbrannt wurde, heute an eine Faust denkt, schaltet die Software seiner Prothese um und aktiviert den Daumen. "Diese Funktion ist für exaktes Greifen essenziell", erklärt er. Von den insgesamt 15 verschiedenen Bewegungen, die eine gesunde Hand innerhalb von Sekundenbruchteilen parallel ausführen kann, schafft er heute nur noch vier – und das hintereinander. Damit kann er aber ein normales Leben führen.

Was er noch lernen musste: "Für jede Handbewegung brauche ich meine Augen, um zu wissen, wie fest ich zupacken soll", sagt er. Finsternis sei deshalb ein Problem. Abgesehen davon würde er sich aber nichts mehr wünschen, als mit seiner Hand wieder fühlen zu können.

"Wir wissen: Nicht die Greiffunktion motiviert, sondern die Sensorik", sagt Mayrhofers Chef Hans Dietl, Geschäftsführer von Otto Bock Healthcare in Wien. Ursprünglich als Maschinenbauer ausgebildet, hat er sich in den vergangenen 30 Jahren eher in die Biologie des menschlichen Körpers und dessen Funktionsweise vertieft. "Ein Großteil der Nerven in unseren Händen ist eher mit der Rückmeldung als mit der Ausführung von Befehlen beschäftigt", sagt Dietl.

Schaltstellen im Körper

Im Klartext: Berührung ist viel entscheidender, als wir gemeinhin denken. Die Prothese mit Sensoren zu spicken, sie über noch intakte Nerven ins Gehirn zu verdrahten, Sensoren nicht nur auf der Haut, sondern in Faszien und Muskeln direkt einpflanzen können, um dadurch Funktionalitäten wiederherzustellen: Das sind die Visionen, an deren Umsetzung die Forscher hier arbeiten.

"Je länger ich meinen Job mache, umso größer wird mein Respekt vor der Natur und dem menschlichen Gehirn, das uns zeigt, wie weit wir mit unseren Technologien von dem, was möglich wäre, entfernt sind", sagt Dietl und glaubt nicht, dass es Ingenieuren in naher Zukunft gelingt, direkt in das Nervensystem einzugreifen, um dort nach Belieben Nerven der Peripherie mit den entsprechenden Schaltzellen im Gehirn so zu verdrahten, dass Funktionen quasi durch einen Kurzschluss wiederhergestellt werden. Vom Tastsinn selbst sei man noch weit entfernt.

Was Tastsinn ist

Der Tastsinn, präsent in jedem Kubikmillimeter des menschlichen Körpers, wird oft unterschätzt, die Bedeutung von Umarmung und Streicheleinheiten marginalisiert. Unsere Fingerkuppen erkennen alles: warm, kalt, flauschig, sandig, klebrig, sie erkennen Holz, Plastik und Glas. Wenn wir zugreifen, reguliert unser Gehirn den notwendigen Druck automatisch, in Millisekunden. Forscher vermuten, dass Tastrezeptoren beim Streichen von Oberflächen in Vibrationen unterschiedlicher Frequenz angeregt werden, ein Prozess, der durch die Rillen in den Fingerkuppen verstärkt wird.

Die haptischen Lernprozesse dahinter beginnen schon im Mutterleib. "Alle Säugetiere brauchen nach der Geburt Körperreize, sonst würden sie sterben, Nahrungsmangel kann der Körper kompensieren, Berührung nicht", erklärt Martin Grunwald, Psychologe am Haptiklabor des Paul-Flechsig-Instituts für Hirnforschung an der Universität Leipzig. Menschen werden blind geboren oder taub, doch nur sehr selten kommen Kinder ohne Tastsinn zur Welt.

Robuster Schutzmantel

Von allen erfahrbaren Reizen ist der Tastsinn, so Grunwald, noch am wenigsten erforscht. Tagelang verschwindet er zu Messungen im Labor, um die Verbindung zwischen Nervenreizen und ihrer Verarbeitung im Gehirn zu untersuchen. Die Haut ist ein von der Evolution perfekt entwickeltes Organ, das als Schutzmantel nach außen fungiert. Der Tastsinn verbindet Nerven, Gehirn, Psyche und Immunsystem in einem großen Netzwerk.

"Berührung, da denken viele immer gleich, das sei esoterisch oder gar erotisch", schüttelt Grunwald den Kopf, lacht und hat eine naturwissenschaftlich abstrakte Definition parat. "Berührung ist lediglich die physische Deformation von Haut plus Wärmereize, klingt doch gleich anders", sagt er und erzählt von seinem aktuellen Projekt, in dem es um Selbstberührung geht

Seine Grundfrage: Warum greifen sich die Menschen in emotional aufgeladenen Situationen so oft ins Gesicht? Wer überrascht ist, schlägt die Hände vor den Mund, wer traurig ist, verdeckt die Augen, in Stresssituationen nesteln wir an den Haaren herum. Was Grunwald herausgefunden hat: "Das Gesicht ist ein hochenervierter Bereich und das Ins-Gesicht-Fassen ein Reiz, der beruhigt und das Arbeitsgedächtnis vor Verlusten bewahrt", konnte er in bildgebenden Verfahren feststellen.

In anderen Worten: Immer dann, wenn die Synapsen im Gehirn durch heftige Eindrücke überfordert sind, reicht ein Reiz im Gesicht, um eine Art Kurzschluss zu verhindern und das System wieder "ins Hier und Jetzt zurückzuholen".

Körperwahrnehmung unbewusst

Grunwald, der in seinen Ausführungen gerne abschweift, kommt aber schnell zum Wesentlichen zurück – nämlich der Selbstwahrnehmung des Menschen. Man könne sich das als eine Art neuronalen Prozessor im Gehirn vorstellen, der Speicherplatz, an dem sämtliche Bestandteile des Körpers in einem dreidimensionalen Modell zusammengefügt sind und von dort auch verwaltet werden.

Die Crux: Dieser so zentrale Bereich der Selbstwahrnehmung ist dem menschlichen Bewusstsein nicht zugänglich, ganz ähnlich wie das Gedächtnis selbst. Wir wissen nicht, wie das Gehirn Informationen speichert, merken nur, ob sie gespeichert sind. Was die Selbstwahrnehmung betrifft, unterscheidet Grunwald folgerichtig zwei getrennte Bereiche.

Das Körperschema, das uns kognitiv nicht zugänglich ist, und das Körperbild, über das wir sprechen können. Am Beispiel der Anorexie lasse sich die Dichotomie gut zeigen, sagt Grunwald und erzählt von einem Experiment mit magersüchtigen Mädchen in seinem Labor. Im Rahmen einer Behandlung waren sie aufgefordert, einmal am Tag für drei Stunden eng anliegende Neoprenanzüge zu tragen. "Der Druck auf der Haut veränderte die Selbstwahrnehmung, einige Mädchen konnten durch den Reiz von außen nach einer gewissen Zeit erkennen, dass sie zu dünn sind", erzählt er. Die Bewusstwerdung veränderte bei den Anorektikerinnen dann auch das Körperbild. Sie nahmen sich selbst als mager wahr, und das veränderte auch ihr Verhalten.

"Haptische Verarmung"

Das gestörte Körperschema spiele sehr oft eine Rolle, sagt Grunwald, etwa auch bei Diabetes. Wenn die Nervenenden an den Füßen durch die Erkrankung geschädigt werden, spüren Patienten etwaige Verletzungen nicht mehr. Wunden werden nekrotisch, was im schlimmsten Fall zu Amputation führen kann. "Die Leute vernachlässigen ihre Füße nicht bewusst, das neuronale System verliert nur seine Repräsentation im Gehirn, ein Diabetiker fühlt das Bein nicht mehr als zu sich selbst gehörig und versteht auch nicht die entsetzte Reaktion der Umwelt", sagt Grunwald. Es sind solche Zusammenhänge, die für Grunwald zählen.

Er beklagt "die haptische Verarmung der Medizin", inklusive der Psychologie, die sich ausschließlich mit kognitiven Prozessen im menschlichen Gehirn befasst. So ist er überzeugt, dass Massagen in Krankenhäusern Wunder bewirken könnten. "In 20 Minuten Berührung werden so viele körpereigene Botenstoffe freigesetzt, als ob ein Patient 15 Medikamente gleichzeitig schlucken würde", sagt er. Der Tastsinn ist im Laufe des Lebens zwar nicht immer so lebensnotwendig wie bei Babys und Kleinkindern, die ohne Körperkontakt sterben würden, doch Studien zeigen, dass ein Fehlen von Körperkontakt auch im Erwachsenenalter Depressionen fördert.

Als Onkologe hat Leopold Öhler, Vorstand der Abteilung für Innere Medizin am St. Josef Krankenhaus in Wien, eine ziemlich genaue Vorstellung davon, was das im Einzelfall bedeuten kann. "Bei 99 Prozent aller Schwerkranken findet Berührung nur noch durch Pflegepersonen statt", sagt er. Bei Krebspatienten ist es oft die Angst vor Infektionen, die sie in die körperlich betrachtete Isolation zwingt. "Durch die Krankheit verlieren die Menschen ihr Selbst", hat er bei Kranken oft erlebt.

Tasten, Drücken, Hören

Auch deshalb ist er ein Verfechter der klinischen Untersuchung. Medizin sei, bis zu einem gewissen Grade immer noch ein Handwerk, bei dem Tasten, Drücken und Fühlen Rückschlüsse auf die gesundheitliche Situation eines Menschen zulassen. Es sei ein Unterschied, sich bei der Visite nur die Krankenakte anzusehen oder sich mit den eigenen Sinnen einen Eindruck zu verschaffen. "Der Effekt solcher klinischer Untersuchungen ist meist unmittelbar", sagt Öhler, "die Menschen richten sich auf, beginnen ein Gespräch, es entsteht ein Vertrauensverhältnis."

Dabei kritisiert er aber auch das heutige Ausbildungssystem, medizinische Universitäten entlassen Absolventen, die im besten Fall nur noch Befunde und Bilder lesen lernen, weil viele praktische Prüfungen in den letzten Jahren aus dem Curriculum verschwunden sind.

Was Öhler macht, braucht Übung. Er tastet den Bauch ab, drückt auf bestimmte Stellen, bleibt drauf und wartet die Reaktion seines Patienten ab. Manchmal fragt er, ob das oder das wehtut. "Schmerzen können ein Hinweis auf Entzündungen sein", sagt er. Die Diagnostik vieler Erkrankungen fuße immer noch auf der klinischen Untersuchung, selbst Tumore in Darm, Niere, Leber und Bauchspeicheldrüse lassen sich gelegentlich erkennen, sagt er. Noch hat er den Patienten vor ihm nicht durchuntersucht. Er klopft, horcht mit dem Stethoskop, schaut in den offenen Mund, erkundigt sich nach Verdauung und Allgemeinbefinden.

Nur wenn sich in der klinischen Untersuchung ein Verdacht ergibt, ordnet er zusätzliche Untersuchungen an. Durch die Erfahrung hat er ein Sensorium dafür, was wirklich akut ist, wann eine weitere Untersuchung tatsächlich Sinn macht und wann Abwarten eine vertretbare Option ist. Das Problem: Die Eindrücke seiner Fingerkuppen sind im Gegensatz zu einem Röntgenbild nicht reproduzierbar.

Was Ayurveda kann

Doch Medizin kam seit Jahrtausenden ohne Hightech aus. Wer sich einen Eindruck über das Menschenbild der Inder verschaffen will, kommt zu Gaurav Sharma ins Ayurveda-Ressort nach Hinterthiersee in Tirol. Der ayurvedische Arzt schaut hier jedem Kurgast tief in die Augen, kontrolliert die Zunge macht eine ausführliche Pulskontrolle.

"Das sagt viel über einen Menschen, seine Nerven, seinen Charakter und seinen momentanen Zustand." Viele seien überarbeitet, berichtet der ayurvedische Arzt mit einem wissenden Lächeln – und weiß fast immer ganz sicher, dass ein Teil jeder hier verordneten Kur tägliche Massagen sein werden: einmal mit viel Druck, dann wieder sanfter; ein andermal Ganzkörperpeelings, mit Kräutern, mit Öl, dann wieder nur das Gesicht.

Das alles folgt einem genauen System. Die Königsdisziplin im Ayurveda ist die vierhändige Abhyanga-Synchronmassage. "Wenn vier Hände über den Körper streichen, versteht das Gehirn nicht, was los ist, und schaltet einfach automatisch ab", kann Ayurvedamasseur Wolfgang Thaler berichten. Spätestens nach zwei Minuten ist noch jeder, der auf seinem Tisch lag, in eine Art Tiefenentspannung verfallen.

Von außen nach innen

"Wir verwenden viel Öl, auch das ist für den Körper eine noch nie gefühlte Art der Empfindung", präzisiert er und erlebt, wie die Kurgäste mit jedem Tag mehr zur Ruhe kommen – oder wieder zu sich kommen. Viele, die zum Ayurveda in die Tiroler Berge kommen, haben harte Zeiten hinter sich. Besonders Menschen nach Scheidungen oder dem Verlust von geliebten Menschen würden mit den Berührungen durch die Massagen wieder zu sich finden.

Berührung, Wärme, Nichtstun: Die ayurvedische Lehre, so Gaurav Sharma, empfiehlt Kuren dreimal pro Jahr, und nicht selten wisse der Körper besser als der Kopf, was zu tun ist. "Der Geist deutet vieles falsch", sagt der indische Arzt und nennt es, "das Ich abschalten."

Vielleicht ist es genau das, was Hans Dietl vom Prothesenhersteller Otto Bock als Neurofeedback bezeichnen würde. Sicher ist, dass es sich bei einer Ayurvedakur im Sinne des Tastsinnforschers Martin Grunwald um eine intensive Deformation der Haut plus Wärmereize handelt und damit im medizinischen Sinne leichte Depressionen lindern kann. Was Grunwald selbst erwähnenswert findet: Das menschliche Gehirn selbst ist für Berührungen aller Art unempfindlich. Bei Gehirnoperationen empfinden Menschen keine Schmerzen, wenn die Nervenzellen selbst berührt werden. (Karin Pollack, CURE, 30.10.2016)