In Deutschland ist die zwangsweise Verabreichung von Psychopharmaka ein Eingriff in das Grundrecht. In Österreich sieht dies das Justizministerium anders.

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Das deutsche Bundesverfassungsgericht hat sich im Jahr 2011 in einer viel beachteten und umfangreichen Entscheidung zur Zwangsbehandlung psychisch kranker Straftäter geäußert. Demnach stelle die Verabreichung von Neuroleptika gegen den natürlichen Willen des Patienten einen besonders schweren Eingriff das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit dar.

Grundrechtlich geschützte Freiheit

Psychopharmaka seien auf die Veränderung seelischer Abläufe gerichtet und berühren in besonderem Maße den Kern der Persönlichkeit. Eingriffe in den Kern der Persönlichkeit seien jedoch ausnahmslos verfassungsrechtlich verboten. Die grundrechtlich geschützte Freiheit schließe auch die "Freiheit zur Krankheit" und damit das Recht ein, auf Heilung zielende Eingriffe abzulehnen, selbst wenn dies nach dem Stand des medizinischen Wissens dringend angezeigt sei.

Zwang sei nicht nur die Überwindung von physischem Widerstand sondern auch das in Aussichtstellen von Nachteilen im Falle der Behandlungsverweigerung. Im Falle dass trotz "Fehlschlags der aufklärenden Zustimmungswerbung" die Behandlung durchgeführt werden soll, sei eine rechtzeitige Ankündigung erforderlich, die dem Betroffenen die Möglichkeit eröffnet, rechtzeitig Schutz zu suchen. "Der Untergebrachte muss die Möglichkeit haben vor Schaffung vollendeter Tatsachen eine gerichtliche Entscheidung herbeizuführen."

Bundesministerium untätig

Es folgte eine Flut von Publikationen in denen die Entscheidung – soweit überschaubar – durchwegs positiv aufgenommen wurde. In den Ländern Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg, Sachsen, Hessen, Bayern und Hamburg wurden die Gesetze entsprechend geändert, andere Länder folgten nach. Auch in Österreich blieb das Judikat nicht unbeachtet. So schrieb etwa Christian Kopetzki, der Leiter der Abteilung für Medizinrecht am Institut für Staats- und Verwaltungsrecht an der Uni Wien, bereits 2012, dass diese Judikatur zwar das deutsche Recht betreffe, die herangezogenen Grundsätze aber in Österreich ebenso Geltung hätten.

Dass man im Bundesministerium von all dem nichts mitbekommen hat, ist kaum anzunehmen. Vielmehr scheint man sich dort auf den ehernen Verfassungsgrundsatz "des hamma immer so g'macht" zu stützen. Zumindest erweckt die kürzlich eingegangene Beantwortung einer parlamentarischen Anfrage diesen Eindruck.

Justiz muss jede Behandlung genehmigen

Der Neos-Abgeordnete Nikolaus Scherak und Kollegen und Kolleginnen stellten dem Bundesministerium für Justiz 27 Fragen betreffend Zwangsbehandlung im Maßnahmenvollzug. Dazu muss vorausgeschickt werden, dass die Zwangsbehandlung im Maßnahmenvollzug in Österreich einer Genehmigung durch das Bundesministerium für Justiz bedarf, und zwar für jede einzelne Behandlung. Diese werden in aller Regel in Form von vierzehntägigen Depotinjektionen durchgeführt. Die meisten Antworten gingen an den Fragen einfach vorbei. Doch einige nicht.

Auf die Frage, wie oft in den Jahren 2011 bis 2015 eine Genehmigung zur Zwangsbehandlung erteilt wurde, und wie sich die Genehmigungen auf die zurechnungsfähigen und die unzurechnungsfähigen Personen im Maßnahmenvollzug und auf die verschiedenen Justizanstalten aufteilt, lautet die Antwort: "Die Auswertung der angefragten Jahre würde geschätzt über 300 Fälle umfassen und wäre mit einem unverhältnismäßig administrativen Aufwand verbunden, weshalb von der Beantwortung dieser Frage Abstand genommen werden muss."

Beschwerde im Nachhinein

Eine andere Frage war: "Bedeutet Zwang auch die Androhung von Nachteilen im Falle der Verweigerung der Behandlung?" Die Antwort ist: "Nein". Eine andere Frage war: "Hat die betroffene Person in irgend einer Weise die Möglichkeit, ihre Argumente für die Ablehnung der Behandlung vorzubringen? Die Antwort ist: "Eine Beschwerdemöglichkeit steht dem Patienten im Nachhinein zu."

Ein besonderes Verdienst des Judikats des Deutschen Bundesverfassungsgerichts ist es, mit der Bagatellisierung der Nebenwirkungen aufzuräumen indem es von der Möglichkeit schwerer, irreversibler und lebensbedrohlicher Nebenwirkungen spricht.

Häufige Nebenwirkungen

Laut Beipackzettel des Arzneimittels Risperdal, eines der am häufigsten verabreichten Neuroleptika, sind sehr häufig auftretende Nebenwirkungen: Parkinsonismus, erhöhter Speichelfluss, Steifheit der Muskeln, unwillkürliche Zuckungen, langsame, reduzierte oder beeinträchtigte Körperbewegungen, fehlender Gesichtsausdruck, steifer Nacken, kleine schlurfende, hastige Schritte und fehlende Armbewegungen beim Gehen. Außerdem Kopfschmerzen, Schwierigkeiten beim Ein- oder Durchschlafen. Häufig auftretende Nebenwirkungen sind: Benommenheit, Erschöpfung, Ruhelosigkeit, Unfähigkeit still zu sitzen, Reizbarkeit, Angstgefühle, Schwindel, Konzentrationsstörungen, Erbrechen, Durchfall, Verstopfung, Übelkeit, Appetitsteigerung, Bauchschmerzen, Halsschmerzen, Mundtrockenheit, Gewichtszunahme, Anstieg der Körpertemperatur, Schwierigkeiten beim Atmen, Lungenentzündung, verstopfte Nase, Nasenbluten, verschwommen sehen, Infektionen der Harnwege, Bettnässen, Muskelkrämpfe, unwillkürliche Bewegungen von Gesicht, Armen und Beinen, Gelenksschmerzen, Rückenschmerzen, Schwellung von Armen und Beinen, Schmerzen in Armen und Beinen, Hautausschlag, Hautrötung, schneller Herzschlag, Schmerzen im Brustkorb, erhöhter Blutspiegel des Hormons Prolaktin.

Es treten zwar bei weitem nicht alle angeführten Nebenwirkungen auf, aber bei allen Betroffenen treten – nach den mir vorliegenden Informationen – einige auf. Die häufigsten sind: Kleine Schritte, ausdrucksloses Gesicht, unwillkürliche Zuckungen.

Ministerieller Zynismus

Wenn also das Bundesministerium für Justiz schreibt: "Eine Beschwerdemöglichkeit steht dem Patienten im Nachhinein zu", so ist das an Zynismus kaum zu überbieten. Oder das Bundesministerium für Justiz hat keine Ahnung.

Angesichts des Umstands, dass es schon für einen unbehandelten Insassen, sofern er nicht einschlägig rechtskundig ist, eine große Herausforderung ist, eine Beschwerde zu verfassen, erscheint dies für den behandelten völlig außerhalb seiner Möglichkeiten. Überdies wäre so einer Beschwerde garantiert kein Erfolg beschieden, denn es war ja alles rechtens. Des hamma doch immer so g'macht, und – da könnt ja jeder kommen. (Katharina Rueprecht, 23.8.2016)