In dem Lkw, der in einer Pannenbucht auf der A4 bei Parndorf abgestellt war, erstickten 71 Flüchtlinge. Ein Monat später war die Grenze in Nickelsdorf für alle Migranten offen.

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Einige Balkanrouten im Spätsommer und Herbst 2015

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Im Spätsommer des Vorjahres sind die Angelegenheiten, die wir für so wohlgeordnet gehalten haben, ins Rutschen gekommen. Seit dem Frühjahr hat sich die Flüchtlingswelle – so man denn von einer Welle reden will, sinnbildlich – aufgebaut. In Ungarn stauten sich die über die Balkanroute Gekommenen. Das Schleppergeschäft florierte. Die burgenländische Polizei mühte sich. Die Eisenstädter Staatsanwälte haben 600 einschlägige Verfahren ins Rollen gebracht, mehr als zwei jeden Arbeitstag. Fast schien es, als würde daraus so was wie Routine werden.

Die aber war spätestens mit dem 27. August zu Ende. Auf der Ostautobahn, Hauptverkehrsader auch im Schlepperverkehr, stand in einer Parkbucht ein Lkw. Der Polizeistreife, die dort Nachschau hielt, bot sich das schiere Grauen. Eine Unzahl schon in Verwesung übergegangene Leichen. Erstickt. Zu wenig Platz umzufallen. Zusammengesackt in sich. Erste Schätzungen nach dem kurzen Augenschein sprachen von 20 Toten, in der eiligen Einladung zur Pressekonferenz schätzte die Polizei "bis zu 50 Tote", tags darauf war klar: 59 Männer, acht Frauen und vier Kinder. Später wird sich herausstellen, dass darunter eine sechsköpfige afghanische Famile gewesen ist, Vater, Mutter, drei Kinder und ein Cousin.

Kriminalistisches Getriebe

Kriminalistisch ist diese Tragödie bald im Griff. Noch am selben Tag beginnt das gut geschmierte und erprobte Getriebe der Strafverfolgung zu laufen. Und ineinanderzugreifen. Fälle wie dieser, die ihre mörderische Spur quer über den halben Kontinent gezogen haben, sind nur auf europäischer Ebene handhabbar.

Noch in der Nacht gibt es, den europäischen Haftbefehlen aus Eisenstadt folgend, erste Verhaftungen. Demnächst wird den Verdächtigen der Prozess gemacht. 70 der 71 Toten erhielten durch die akribische Polizeiarbeit wenigstens Namen und Adresse zurück.

So klaglos die europäische Strafverfolgung funktioniert hat – Institutionen wie Eurojust und Europol lassen sich mit gutem Recht als EU-Erfolgsgeschichte darstellen –, so verworren hat sich die europäische Politik präsentiert: ein Bild des Jammers von Anfang an. Deutschland und Österreich ließen es sich nicht nehmen, die ab dem 4. September gezeigte eigene Großherzigkeit mit oberlehrerhaften, im diplomatischen Verkehr sehr verzichtbaren Mahnworten Richtung Ungarn zu garnieren.

Dieses seinerseits scheute sich nicht, die mangelnde Hilfsbereitschaft der EU-Partner bei der Bewältigung der Flüchtlingssituation mit purer Böswilligkeit zu vergelten. Man schien in Budapest diebische Freude daran zu haben, die Österreicher im Unklaren zu lassen, wohin die Flüchtlingszüge geschickt werden.

"Wir schaffen das"

Aber nicht nur die Geister der europäischen Politik schieden sich in der Flüchtlingsfrage. Gleichzeitig verfestigten sich unterschiedliche Sichtweisen auf das so wohltönende "Wir schaffen das" der deutschen Kanzlerin zu Fronten. Heute, rund anderthalb Millionen Flüchtlinge und mitgewanderte Migranten später, sind die europäischen Gesellschaften tief gespalten.

Wobei die Flüchtlingsfrage selbst im Grunde kaum mehr ist als ein Katalysator. Spätestens seit dem 27. August und den folgenden turbulenten Monaten mit den verzweifelten Versuchen, wieder ein geregeltes Grenzmanagement herzustellen, wird mit den Flüchtlingen alles Mögliche verhandelt; von der Sozialpolitik (Mindestsicherung, Arbeitsmarkt) bis zur Existenz der EU (Brexit).

Während Geschichte geschieht – und dass sie das gerade tut mit tiefem Atem, darf man wohl außer Streit stellen – wird sie noch nicht geschrieben. Man kennt das Ende nicht. Nur den Anfang: den 27. August 2015. (Wolfgang Weisgram, 25.8.2016)