Dilma Rousseff gab sich nach der Abstimmung kämpferisch.

Foto: APA/AFP/EVARISTO SA

Michel Temer hat es geschafft: Er wurde am Mittwoch als Präsident angelobt.

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São Paulo – Nur für einen kurzen Moment scheint Brasilien aus der Routine gerissen. Die Fernseher in den zahlreichen Lokalen auf São Paulos Shoppingmeile Avenida Paulista sind umlagert. Als endlich das Ergebnis der Abstimmung im Senat verkündet wird, ist die Reaktion verhalten: Einige reißen die Fäuste in die Höhe, andere wenden sich kopfschüttelnd ab.

Nach mehreren Marathonsitzungen stimmte der Senat mit der notwendigen Mehrheit von 61 Stimmen für eine endgültige Absetzung von Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff. 20 Abgeordnete stimmten dagegen. Der drohenden achtjährigen Sperre für öffentliche Ämter entging Rousseff, weil dafür im Senat nicht die notwendige Zwei-Drittel-Mehrheit zustande kam. Die Präsidentin will nun vor den Obersten Gerichtshof ziehen, um gegen ihre Absetzung vorzugehen.

Kaum Unterstützung für Temer

Für viele Brasilianer ist die Amtsenthebung kein Grund zur Freude. Nach turbulenten politischen Zeiten hoffen sie auf Ruhe. Neuer Präsident wurde der rechtskonservative Politiker Michel Temer, der sich selbst als Retter in schweren Zeiten sieht. Eine Chance auf einen Sieg bei einer legitimen Wahl hätte der Jurist nicht: Nicht einmal fünf Prozent würden für ihn stimmen.

In der jetzigen schweren Wirtschaftskrise sehen sie in ihm allerdings das das kleinere Übel. Das Urteil gegen Rousseff wurde zwar erwartet, es ist dennoch eine Zäsur für Lateinamerikas größte Volkswirtschaft. Mit ihrem tragischen Abgang gehen 13 Jahre Mitte-links-Regierung in Brasilien zu Ende.

Rousseff-Anhänger empört

Die Schlussrunde des Amtsenthebungsverfahrens wurde von der Wut der Rousseff-Anhänger begleitet. Ex-Präsident Luiz Inácio Lula da Silva sprach von "Tagen der nationalen Schande". José Eduardo Cardozo, ehemaliger Justizminister und jetzt für die Verteidigung von Rousseff zuständig, konnte seine Tränen nach der rund 14-stündigen Debatte nicht mehr halten. "Die Geschichte wird sich bei Dilma entschuldigen müssen!"

Die linksgerichteten Regierungen in Venezuela, Ecuador und Bolivien kritisierten Rousseffs Amtsenthebung als unrechtmäßig und zogen ihre Botschafter aus Brasilien zurück. Brasilien berief im Gegenzug die Botschafter aus diesen drei Ländern zurück.

Temer ermöglichte Verfahren

Seit dem 12. Mai war Rousseff suspendiert, angeklagt wegen Bilanztricks im Budget. Dabei hat Temer das Verfahren gegen die Ex-Guerillera erst möglich gemacht: Im März ließ er die Koalition platzen, Rousseffs linksgerichtete Arbeiterpartei PT hatte keine Mehrheit mehr im Kongress. Zuvor jedoch hatte sich Temer gewieft neuer Allianzen versichert. Seine PMDB ist die größte Partei Brasiliens, hat aber keine politischen Überzeugungen: Sie repräsentiert ein breites Spektrum der Finanz-, Agrar- und Unternehmerelite.

Um die Stimmen wurde vor dem Votum gefeilscht wie auf einem Basar. Manche Senatoren ließen ihr Abstimmungsverhalten bis zuletzt offen, um den Preis zu heben. So wurde publik, dass sich Senator Roberto Rocha von Rousseffs ehemaliger Koalitionspartei PSB von Temer mit einem Direktorenposten bei einer staatlichen Bank "überzeugen" ließ.

Feilschen um Stimmen

Auch Rousseffs politischer Ziehvater Lula ist ein Meister der Hinterzimmerpolitik: In Brasília empfing er wankelmütige Senatoren. Doch seine Angebote erschienen vielen von ihnen weniger attraktiv als die der künftigen Regierungspartei.

"Temer hat sich die vergangenen zwei Monate mit Selbstzufriedenheit umgeben", sagt Fernando Abruzio, Politikwissenschafter an der Wirtschaftsuniversität Getúlio Vargas. "Jetzt aber drängt die Zeit." 2018 seien Präsidentschaftswahlen, und vorher müsse er alle unpopulären Maßnahmen umgesetzt haben. Dazu gehören die Heraufsetzung des Pensionsalters und drastische Ausgabenkürzungen bei Programmen für die ärmere Bevölkerung. Dabei betont Temer immer wieder seine Unabhängigkeit, weil er 2018 nicht als Präsidentschaftskandidat antreten will. Im Moment könnte er das auch gar nicht, da gegen ihn wegen illegaler Wahlkampffinanzierung ermittelt wird. (Susann Kreutzmann aus São Paulo, 31.8.2016)