Den menschlichen Organismus nicht nur als Maschine sehen, sondern ganzheitlich begreifen: Die Psychoneuroimmunologie fordert einen Paradigmenwechsel in der Schulmedizin.

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Christian Schubert hält reine Biomedizin für überholt.

STANDARD: Was unterscheidet die Psychoneuroimmunologie (PNI) von der Psychosomatik?

Schubert: Die Psychosomatik ist ein relativ alter Forschungszweig, der eigentlich eine medizinübergreifende Haltung darstellt: Psyche und Körper sollten bei einem Patienten immer zusammen gesehen werden. Die PNI ist ein neuer Teilbereich der psychosomatischen Forschung, der mittels harter immunologischer Daten den Brückenschlag von den vermeintlich weichen Softdaten der Psychologie hin zur objektivierten Laborwelt der Schul- oder Biomedizin schafft.

STANDARD: PNI unterfüttert also die Psychosomatik mit handfesten Daten?

Schubert: Die PNI kann klar zeigen, dass psychische Faktoren – das können Lebensereignisse sein oder Stimmungen wie Wut und Trauer – in einer nicht mehr vom Tisch zu wischenden Verbindung mit Hardcore-Labordaten stehen. Also mit Immunfaktoren, Hormonen oder dem Nervensystem. Das geht so weit, dass man beweisen konnte, dass psychische Faktoren bis in den Zellkern wirken.

STANDARD: Was kann man sich darunter vorstellen?

Schubert: Mit zunehmendem Alter steigen in unserem Körper die Entzündungsprozesse automatisch an, was die Telomere, die Schutzkappen an den Chromosomen, beeinflusst. Sie werden immer kürzer, je älter wir werden. Die PNI konnte nun nachweisen, dass Stress, wie etwa die Umsorgung eines chronisch kranken Kindes, die Telomerlänge der Mutter dramatisch beeinflusst. Mütter, die starkem Stress ausgesetzt sind, altern den Untersuchungen zufolge 15 bis 20 Jahre schneller. Das sind natürlich auch gesundheitspolitische Aspekte, die man nicht vernachlässigen sollte.

STANDARD: Bringt diese Forschung die etablierte Medizin in Erklärungsnot?

Schubert: Ja, denn nun werden Beziehungen zu Gesundheitsaspekten, wie es Ernährung oder Sport bereits sind. Das ist eine neue Philosophie. Die Medizin sollte sich nicht mehr nur auf Verhaltensweisen wie Rauchen oder Bewegung konzentrieren, denn Beziehungsqualität ist für die Lebenserwartung von fundamentaler Bedeutung. Sie ist der Hauptfaktor dessen, was uns krank macht oder gesund hält. Je näher uns eine Beziehung geht, desto toxischer oder eben besser kann sie für uns im Sinne einer längeren Lebenserwartung sein.

STANDARD: PNI setzt bereits im Mutterleib an. Ist die Mutter-Kind-Beziehung die prägendste?

Schubert: Ja, denn das Kind steht schon von Beginn an in einer symbiotischen Verbindung zur Mutter. Dort wirkt sich Stress derart massiv auf das Ungeborene aus, dass es schon mit einem gefährlichen Ungleichgewicht im Immunsystem zur Welt kommen kann. Eine gesunde Beziehung zu den Eltern vermag das wieder auszugleichen. Bleibt das Kind aber in diesem Ungleichgewicht, ist es ständigem Stress ausgesetzt, was beispielsweise zu gehäuften Erkrankungen des viralen Spektrums führen kann. Wir vermuten in der PNI, damit auch die derzeit zu beobachtende Epidemie von Asthma und Autoimmunerkrankungen unter Kindern erklären zu können.

STANDARD: Wie erforscht man Beziehungen?

Schubert: Wir haben einen Forschungsansatz entwickelt, der auf Einzelfallebene funktioniert. Die Patienten sammeln über ein bis zwei Monate alle zwölf Stunden Harnproben. Daneben beantworten sie zweimal täglich Fragebögen, und wir bitten sie einmal pro Woche zum ausführlichen Interview. Wenn alle Zeitreihen vorliegen, setzt sich das Team zusammen und analysiert. Das ist enorm genau und alltagsnah, allerdings wirft uns die Biomedizin vor, wir würden Einzelfallforschung betreiben. Doch das ist leicht zu entkräften, weil wir unsere Ergebnisse sehr wohl verallgemeinern können.

STANDARD: Findet PNI bereits Anwendung in der Medizin, oder ist sie bislang reine Forschung?

Schubert: Noch ist sie ein reiner Forschungsbereich ohne klinische Anwendung. Im Idealfall befinden wir uns in einem Paradigmenwechsel. Denn wir haben heute eine Life-Science, die diesen Namen nicht verdient. Mit Leben hat diese Forschung im Reagenzglas nämlich nichts zu tun. (Steffen Arora, 10.9.2016)