Am zweiten Tag des "Amok-Prozesses" wurde Alen R. mit den Aussagen von Opfern konfrontiert. Er verfolgte die Schilderungen der Verletzten über ihren Schmerz in sich versunken ohne Regung.

APA/ Erwin Scheriau

Graz – Alen R. ist noch nicht fassbar. Flunkert er? Erzählt er "Schmähs" , wie ein Staatsanwalt in Erwägung zieht, oder ist er wirklich psychisch schwer krank? Leidet er wirklich unter paranoider Schizophrenie? Die Gerichtspsychiatrie, die Mediziner wissen es bis heute nicht.

Die Diagnose sei nur eine "Arbeitsdiagnose", es gebe bei Alen R., der laut Toxikologenbefund regelmäßig Cannabis konsumierte, eine "abnorme Wahrnehmung", die aber noch nicht "ausgeformt" sei, sagt Gerichtspsychiater Jürgen Müller am zweiten Tag des Grazer "Amok" -Prozesses. Da platzt Richter Andreas Rom der Kragen: "Die Medizin hat seit einem Jahr keine definitive Diagnose geschafft."

Gerichtsgutachter Manfred Walzl, der als einziger der drei Psychiatriegutachter Alen R. für zurechnungsfähig hält, stichelt nach, dass die "Hypothese Schizophrenie" nie erhärtend "ausdiagnostiziert" worden sei. Aber: Alen R. wird auf diese Diagnose-Hypothese hin mit schweren Psychopharmaka behandelt, deren Auswirkungen täglich im Gerichtssaal zu beobachten sind.

Wer ist der wahre Alen R.?

Alen R. sitzt in sich versunken, in seiner zu großen weißen Kluft, starrt vor sich hin und murmelt oft wirres Zeug. Ein Opferanwalt stellt dann die richtige Frage: Wie solle denn Alen R. richtig diagnostiziert werden, wenn die Symptome durch Medikamente unterdrückt werden? Wie könne man da den wahren Alen R. erkennen? "Gute Frage", kam von Gerichtspsychiaterseite zurück.

Seit Anbeginn des Prozesses versucht das Gericht zu ergründen, ob Alen R. ganz bewusst seinen Wagen gesteuert hat oder ob er, wie er immer wieder angibt, in Panik wegen vermeintlicher Verfolger die Kontrolle übers Auto verloren und nur "versehentlich" Menschen erwischt habe. Ein Technikgutachter sagt an diesem zweiten Verhandlungstag klipp und klar: "Man erkennt auf der gesamten Fahrstrecke, dass es sich um einen Lenker handelt, der sein Fahrzeug beherrscht." "Was sagen Sie dazu?", fragt Richter Andreas Rom. Alen R.: "Ich kann mich nicht mehr erinnern."

Das Herz zerrissen

Was diese Amokfahrt mit 50, 60 oder 70 Stundenkilometern im realen Leben angerichtet hat, seziert Gerichtsmediziner Eduard Peter Leinzinger mit kaum erträglicher Deutlichkeit. Todesopfer Nummer eins: Ein 29 Jahre alter Mann, der mit seiner Frau auf dem Gehsteig in der Griesgasse unterwegs war, wird vom Wagen frontal erfasst: Schädelbruch, Herz zerrissen, Sprunggelenk gebrochen. Er ist sofort tot. Opfer Nummer zwei: eine alleinstehende Grazerin in der Fußgängerzone der Herrengasse – Rippenserienbrüche Blutaustritt in die Brusthöhle, Leber und Nieren schwer verletzt. Sie stirbt nach kurzer Zeit.

Opfer Nummer drei: der fünfjährige Valentin. Er wird von hinten angefahren: Halswirbel abgerissen, Brustwirbel abgerissen, Leber zerrissen. Er war sofort tot. "Was sagen Sie zu alledem?", fragt Richter Rom. Alen R.: "Es tut mir leid, aber ich bin selbst ein Opfer."

"Fliegende Menschen"

"Darf ich meine persönliche Meinung sagen?", fragt wenig später eine Zeugin, die von "fliegenden Menschen" erzählt und von Alen R., der mit "lässig" aus dem Fenster gelehntem Arm an ihr vorbeigefahren sei. Richter Rom sagt, ja, solange sie niemanden beleidige. "Dann lass ich's lieber."

Der in der Luthergasse schwer verletzte Radfahrer will dem Amokfahrer aber doch persönlich etwas sagen: "Ganz gleich, wie hier geurteilt wird – für die Opfer sind Sie schuldig. Und diese Schuld wird Sie begleiten, alle Ängste und alle Hoffnungslosigkeit der Opfer werden Sie begleiten, so wie mich und die Opfer, die noch leben, die Schmerzen, die Ängste und die Hoffnungslosigkeit. Jede Sekunde, jede Minute und jeden Tag. Sie können noch so viel lügen, eines können Sie nicht belügen, das ist Ihr Gewissen, und dieses Gewissen wird Sie begleiten bis zu Ihrem Tod." (Walter Müller, 21.9.2016)