Berlin – Der umstrittene Majestätsbeleidigungsparagraf 103 des deutschen Strafgesetzbuchs soll nun doch rascher als geplant abgeschafft werden. Die "Rheinische Post" berichtet unter Berufung auf Regierungskreise, dass die Streichung auf die Tagesordnung des Koalitionsausschusses gesetzt wurde. Der Gesetzesentwurf von Justizminister Heiko Maas (SPD) befindet sich seit Ende April in der Ressortabstimmung.
Antiquierter Passus
Durch die Böhmermann-Affäre war der antiquierte Passus in den Fokus gerückt. Der deutsche Fernsehsatiriker Jan Böhmermann hatte Ende März in seiner Sendung "Neo Magazin Royale" eine "Schmähkritik" am türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan verlesen. Eingebettet war das Gedicht in eine an Erdoğan gerichtete juristische Erklärung, was Meinungsfreiheit bedeutet und was durch diese nicht gedeckt ist.
Erdoğan klagte umgehend auf Basis des regulären Beleidigungsparagrafen 185 und auch nach Paragraf 103, in dem die Beleidigung ausländischer Staatschefs unter Strafe gestellt wird – mit einem weitaus höheren Strafrahmen. Erdoğan löste damit sowohl eine diplomatische Krise zwischen Berlin und Ankara als auch eine Koalitionskrise in Berlin aus. Während die SPD den umstrittenen Absatz mit sofortiger Wirkung abschaffen wollte, kündigte Bundeskanzlerin Angela Merkel die Abschaffung für die Zukunft an – und erteilte die Ermächtigung zur Strafverfolgung Böhmermanns nach Paragraf 103.
Keine strafbare Handlung nachweisbar
Die Staatsanwaltschaft Mainz hatte die Ermittlungen gegen Böhmermann am Dienstag eingestellt. Dem Satiriker seien keine strafbaren Handlungen nachweisbar, argumentierte die Staatsanwaltschaft. Erdoğan will diese Entscheidung offenbar nicht akzeptieren. Er wies seinen deutschen Anwalt Michael-Hubertus von Sprenger an, Beschwerde gegen die Verfahrenseinstellung einzulegen.
Am Mittwoch nahm Jan Böhmermann per Video im Internet zu dem Verfahren Stellung. Wenn ein Witz eine Staatskrise auslöst, sei dies nicht ein Problem des Witzes, sondern des Staates. In der Türkei säßen Journalisten ohne Chance auf einen fairen Prozess in Haft, stellte der Satiriker fest.
"Bewusst verletzend"
Unterdessen bestehen Zweifel, ob Merkel den TV-Beitrag Böhmermanns überhaupt im Gesamtzusammenhang kannte, als sie diesen in einem Telefonat mit dem damaligen türkischen Regierungschef Ahmet Davutoğlu als "bewusst verletzend" bezeichnete. Böhmermanns Anwalt Christian Schertz hatte der Kanzlerin vorgeworfen, sie habe diese Bewertung "offenbar in Unkenntnis des genauen Sachverhalts" durch Regierungssprecher Steffen Seibert bei der Bundespressekonferenz mitteilen lassen. Schertz bezeichnete dies als "Kompetenzüberschreitung" und "öffentliche Vorverurteilung". Diese wiege umso schwerer, "als sie von der türkischen Regierung als Ermutigung aufgefasst werden konnte, straf- und zivilrechtlich gegen Herrn Böhmermann vorzugehen".
Auf eine darauffolgende entsprechende Anfrage des "Tagesspiegel" verweigerte das Bundeskanzleramt die Antwort – trotz grundsätzlicher Auskunftspflicht, wie die Zeitung feststellt. "Der der Einschätzung der Bundeskanzlerin vorgelagerte Beratungs- und Abstimmungsprozess unterfällt dem Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung", teilte das Kanzleramt lapidar mit. Der "Tagesspiegel" vermutet, Merkel habe ihre Beurteilung des Böhmermann-Beitrags lediglich auf eine oberflächliche "interne Einschätzung zu den juristischen Implikationen" gestützt. Vertreter des Außen- und Justizministeriums hatten eine knappe, als vertraulich eingestufte Stellungnahme über die mögliche Strafbarkeit des TV-Beitrags verfasst und waren dabei zu dem Schluss gekommen, Böhmermann habe sich nach Paragraf 103 strafbar gemacht. (Michael Vosatka, 6.10.2016)