Die 1993 fertiggestellte Hassan-II.-Moschee in Casablanca liegt ...

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... direkt an einem quirligen Küstenabschnitt. Surfer treffen hier auf Gläubige, Girlies auf verschleierte Frauen.

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Souvenirjägerinnen in Casablanca

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Die Esplanade der Hassan-II.-Moschee

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Wahrscheinlich wurde das Wort "flanieren" für genau solche urbanen und dennoch verträumten Ecken erfunden: Im Zentrum von Casablanca scheint die Zeit stillzustehen. Unter schattigen Arkaden schlürfen bereits am frühen Morgen die ersten Gäste Minztee, Herrenausstattergeschäfte mit klingenden Namen wie Gatsby erzählen von besseren Zeiten und im Jugendstil-Kino Cinéma Rialto läuft neben neuen Bollywood-Blockbustern noch immer der Klassiker Casablanca aus dem Jahr 1942. Er ließ die Stadt zum Mythos werden, wurde aber fast vollständig in Studios in Los Angeles gedreht.

Im Herzen dieses entspannten Viertels rund um den Boulevard Mohammed V. liegt der Marché Central, wo es noch die schöne Tradition gibt, dass man den Fisch direkt beim Händler kauft und für wenig Geld in einem der umliegenden Lokale zubereiten lässt. Der Markt leuchtet wie die gesamte Architektur in strahlendem Weiß, die Altstadt von "Casa", wie die Einheimischen ihre Metropole nennen, ist eine faszinierende Mischung aus europäischem Art-déco-Stil und arabischen Einflüssen.

Mondänes Dahindämmern

Etwas heruntergekommen reiht sich ein Architekturjuwel an das andere, Häuser mit herrschaftlichen Eingängen, versteckte Passagen mit alten Shops, romantische Cafés, deren Interieur sich seit Jahrzehnten nicht verändert hat. Nichts ist überrenoviert, alles dämmert mondän vor sich hin. Man fühlt sich wie in Havanna, nur, dass in Casablanca weniger Touristen unterwegs sind.

Für die meisten Besucher ist Casablanca bloß eine Station zum Umsteigen, um in die herausgeputzte Hauptstadt Rabat oder ins malerische Marrakesch zu gelangen. Dabei ist Casa ein Universum für sich, eine Stadt der extremen Gegensätze, eine zutiefst europäische Metropole mit prächtigen Boulevards, die daran erinnern, wie das Land zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts unter spanischem und französischem Protektorat stand. Zugleich ist Casa laut, hektisch und modern wie Dubai mit riesigen Shopping-Malls, dann wieder traditionell und ländlich in ihren wuchernden Elendsvierteln im Norden.

Metropole für Millionen

Kaum zu glauben, dass die Stadt um 1900 noch rund 30.000 Einwohner zählte. Wie viele Menschen mittlerweile in der Metropole leben, weiß keiner so genau, die Reiseführer sprechen von fünf Millionen, die Taxifahrer von sieben. Nirgendwo in Marokko, außer vielleicht in der nördlichen Hafenstadt Tanger, spürt man deutlicher die wirtschaftliche Aufbruchsstimmung. Casablanca ist eine riesige Baustelle, gerade entsteht ein neues Finanzzentrum mit Hochhäusern und eine gigantische Hafenanlage für Kreuzfahrtschiffe, die in Zukunft mehr Touristen in die Stadt schwemmen sollen.

Die kanadische Hotelkette Four Seasons hat den Trend erkannt und im Villenviertel Anfa jüngst ein elegantes Luxusdomizil mit Meerblick errichtet. Jihane Ayed, die PR-Verantwortliche des Hotels, ist in Casablanca aufgewachsen und wundert sich selbst, wie rasant sich die Metropole verändert: "Vor zehn Jahren war es noch erstaunlich ruhig, es kamen kaum Touristen", bestätigt sie im kleinen Restaurant am Pool bei einem Tee. "Dabei hat die Stadt enormes Potenzial, wenn man das authentische Marokko sehen möchte."

Enormes Potenzial

Ayed ist ein wenig müde, in der Nacht zuvor drehte ein deutsches Filmteam mit Schauspieler Moritz Bleibtreu eine Szene vor dem Nobelhotel. Kein Wunder, Casablanca gibt als Kulisse viel her, bereits für den Agententhriller Mission Impossible wurde 1996 vor der imposanten Hassan-II.-Moschee gefilmt. Die drittgrößte Moschee der Welt hat ein Fassungsvermögen von 20.000 Menschen, wobei am Platz vor dem Gotteshaus noch einmal 60.000 Gläubige Platz finden. Der Bau vermittelt den Eindruck, aus dem Meer zu wachsen, er wurde auf einer künstlich aufgeschütteten Halbinsel errichtet, weil im Koran steht, Allahs Thron schwebe über dem Wasser. Das Angeberprojekt wurde 1993 fertiggestellt, sieben Jahre wurde Tag und Nacht dafür geschuftet.

Noch heute wirkt die Anlage reichlich künstlich, außer zu Feiertagen ist sie nie voll, sie soll wohl vor allem Touristen beeindrucken, die zu bestimmten Zeiten gegen Eintrittsgeld Führungen mitmachen können (Frauen müssen dabei übrigens kein Kopftuch tragen). Absurderweise gibt es im Keller auch ein Hamam, also ein traditionelles Bad zu besichtigen, das nicht in Betrieb ist. Dass die Moschee ein wenig leblos wirkt, liegt aber auch daran, dass sie selbst für Gläubige nur zu Gebetszeiten geöffnet ist, so möchte man verhindern, dass sich ein radikaler Islam ausbreitet.

Der Weg zu Kontrasten

Weil die Moschee direkt an der Küste liegt, prallen hier Welten aneinander. Surferboys präsentieren stolz ihre Muskeln, kleine Buben springen wagemutig vom Vorplatz der Moschee in die tosenden Wellen. Verschleierte Frauen promenieren neben Girlies in eng anliegenden westlichen Marken-T-Shirts – natürlich meist Fakes, die man günstig in der wuseligen Medina erwirbt, in deren engen, heruntergewirtschafteten Gassen man sich leicht verirren kann.

Die Corniche ist die Lebensader der Stadt, sie verbindet Reich mit Arm, muslimischen mit westlichem Lebensstil. Von der Moschee weiter nach Süden fahrend, gelangt man in das Nobelviertel Anfa-Hills, wo eine Hundertquadratmeterwohnung gut dreitausend Euro kostet und die Hautevolee des Landes in schicken Lokalen ihren Reichtum protzig zur Schau stellt. Aber der Weg dorthin ist voller Kontraste, in einer der schönsten Ecken steht eine alte Plattenbausiedlung mit Meerblick. Und um den alten Leuchtturm, ein Wahrzeichen der Stadt, schmiegt sich slumartig eine ärmliche Fischersiedlung. Keine Frage, die Küste wird sich in den nächsten Jahren stark verändern, das ist bereits deutlich in Rabat zu beobachten, rund eine Stunde mit dem Auto entfernt, wo die Corniche generalsaniert wird. Teure Wohnanlagen vertreiben dort die heruntergekommenen Vierteln.

Wahnwitziger Spagat

Noch ist Casablanca tatsächlich ein Stück ehrliches Marokko, eine verrückte Stadt voller Energie und Überraschungen, längst nicht so überlaufen wie Marrakesch, das sich langsam in ein Disneyland verwandelt. Casa lässt den wahnwitzigen Spagat zwischen Moderne und Tradition, den das nordafrikanische Land wirtschaftlich hinlegt, hautnah nachvollziehen. Es ist verschlafen und hektisch, europäisch und arabisch, altmodisch und zukunftsweisend. Oft liegen zwischen diesen Welten nur ein paar Meter.

Direkt vor dem noblen Four-Seasons-Hotel etwa bereitet sich einer der öffentlichen Strände aus, am Sonntag herrscht ein unglaubliches Gedränge, jeder genießt das Strandleben, obwohl die Wellen dermaßen hoch und gefährlich sind, dass Bademeister aufpassen müssen. Schwimmen in Casablanca heißt sowieso, sich nur ins knietiefe Meer zu stellen, um ein wenig abzukühlen, obwohl sogar die Sommertemperaturen, anders als in Marrakesch, meist unter 30 Grad bleiben.

Viele Familien bauen sich improvisierte Zelte aus bunten Stoffbahnen, nehmen Teekocher mit an den Strand. Das wirkt einigermaßen absurd, auf Wiener Verhältnisse umgelegt, als ob die Donauinsel mitten in Döbling läge. In Casablanca gehören harte Kontraste wie dieser zum Alltag. Wer Sehnsucht nach Ruhe hat, der flaniert ohnehin ins Art-déco-Zentrum. Schöner und nostalgischer kann man nirgends Tee trinken. (Karin Cerny, 9.10.2016)