Ambros Wegener heißt wie eine Krankheit. Das kann man im Lexikon nachschlagen, Gefäßentzündung mit Knötchenbildung. Obwohl die Krankheit eigentlich nicht mehr so heißt, seit man weiß, dass Wegener, also der, nach dem die Krankheit benannt ist, ein Nazi war.

Ambros Wegener ist nicht krank, auch kein Nazi, sondern mein Sitznachbar in der Schule und geht jetzt direkt vor mir die Treppe hoch.

Wegen der Aussicht, hat der Klassenvorstand gesagt, wegen der Aussicht sollen wir hinaufgehen, und ich habe mir gedacht, nie im Leben gehe ich auf den Petersdom rauf. Aber dann ist Ambros gegangen und ich auch.

Das Treppenhaus ist eng und so schief, dass ich den Oberkörper schräghalten muss, um weiterzukommen. Wenn man die Ellenbogen ausstreckt, scheuert man links und rechts an den gefliesten Wänden. Ambros schaut zurück und sagt, Marius, beeil dich. Seit zwei Tagen nennt er mich Marius. Wahrscheinlich, weil es lateinisch klingt.

Ich heiße Benjamin Marius Maier. Marius benutze ich nicht. Das klingt, als hätten meine Eltern mich eigentlich Maria nennen wollen, aber nicht den Mut dazu gehabt. Und Benjamin, nicht Ben. Ben klingt wie steifer Schwanz.

Ich habe noch nie eine so enge Wendeltreppe gesehen. Beim Hinaufgehen kann man sich mit den Händen ein paar Stufen weiter oben abstützen, wie beim Bergsteigen. Ich stelle mir vor, wie es wäre, wenn jemand hier drin eine Panikattacke bekäme. Zum Glück ist Ambros relativ robust, und ich habe vorhin heimlich ein Bier getrunken.

Die Wendeltreppe ist zu Ende, noch ein enges Stiegenhaus. Dann treten wir auf die Aussichtsplattform hinaus. Ich schaue auf die Stadt und stelle mir vor: fliegen. Ambros, sage ich, kannst du mir eine schnorren? Er klemmt seine Zigarette in den Mundwinkel. Selbst gedreht. Er holt den Tabak raus, die Papers, den Filter. Er hat eine kleine Maschine zum Selberdrehen, stellt sie auf dem Steingeländer ab. Aber mit einer Maschine geht das Coole am Selberdrehen verloren. Schön werden sie schon, die Zigaretten. Da, bitte, sagt er, und ich sage, danke, hast du mal Feuer?

Die Mädels wollen wieder runter. Zu kalt ist es und langweilig. Außerdem wollen sie auf einen Kaffee gehen und, wenn möglich, vorher den Papst sehen. Der Klassenvorstand geht mit. Wir sollen nachkommen, in zehn Minuten. So lange wollen sie warten, ob der Papst aus einem Fenster winkt.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Papst aus einem Fenster winkt. Wahrscheinlich ist er nicht einmal da, sondern auf Auslandsreise. Und falls er doch da ist, hat er als Papst sicher Wichtigeres zu tun als Schülerinnen zuzuwinken.

Aber wenn, dann müsste man natürlich ein Foto machen. Ambros könnte das, er hat eine Spiegelreflex. Die Kameratasche steht neben ihm auf dem Boden. Nur das Stativ hat er im Hotel gelassen.

Willst du nicht die Aussicht fotografieren, frage ich, und er sagt, Aussichten fotografiere ich nicht. Hundertdreizehn Fotos hat er schon gemacht, seit wir hier sind, aber keine einzige Aussicht, kein Gebäude. Nur Kunstfotos, die er immer als Dias herzeigt. Nur als Dias, nie als echte Fotos.

Ich hole meine Kamera raus. Irgendjemand muss ja die Touristenfotos machen. Nur mehr vier Fotos übrig. Ich fotografiere die Aussicht, gegen die Sonne. Dann lege ich einen leeren Film ein und stecke den vollen Film in die Dose.

Mir ist kalt, und ich mache die Jacke zu. Ambros steht im T-Shirt da und hat seine Jacke über die Kameratasche gelegt. Er sagt, hast du gehört, heute Abend ist Zimmerparty bei den Mädels, gehst du hin, und ich frage, gehst du.

Ambros zuckt mit den Schultern, sagt, schauen wir mal, und setzt sich auf einen kleinen Mauervorsprung.

Schau, sage ich, und stupse mit der Schuhspitze seine Schuhspitze an, dieselbe Marke.

2

Seit wir auf dem Petersdom waren, nennt er mich nicht mehr Marius.

Wir stehen auf dem Balkon vor dem Hotelzimmer und rauchen. Der Balkon ist winzig und gerade groß genug, dass wir beide Platz haben. Ben, du, Ben, sagt Ambros, hast du schon gehört, der Bernd hat zu Hause schon Internet. Ich weiß nicht genau, was Internet ist, aber ich will mir auch nichts anmerken lassen und sage, wirklich, hat er das?

Weißt du, was man damit alles machen kann, sagt Ambros, und ich sage, klar, und er sagt, da kann man alles Mögliche runterladen. Was kann man da runterladen, frage ich, und Ambros: Bilder zum Beispiel, der Bernd hat ganze Diskettenschachteln voll.

Niemand hat ganze Diskettenschachteln voller Bilder, so viele Bilder hat niemand. Aber für gewöhnlich übertreibt Ambros nicht. Jetzt bin ich natürlich neugierig und frage, was macht er damit? Auf CD brennen, sagt Ambros, er verkauft an der Schule CDs.

Das mit den Bildern wäre nicht schlecht, aber auf CD brennen ist mir zu teuer. Der Bernd verlangt einen Fünfziger pro CD, das kann ich mir nicht leisten. Höchstens für ein Spiel, aber selbst das ist Wucher. Außerdem halte ich den Bernd nicht aus, und dann soll ich hingehen und ihn um eine CD bitten, sicher nicht.

Ich möchte Ambros fragen, warum er mich nicht mehr Marius nennt, warum er auf einmal aufgehört hat, obwohl wir immer noch in Rom sind. Habe ich etwas Falsches gesagt? Das Gesicht verzogen vielleicht? Ich weiß es nicht, aber ich traue mich auch nicht zu fragen. Ein paarmal traue ich mich fast, aber bevor ich mich zwingen kann zu fragen, dreht drinnen jemand Bush auf. Jetzt wird getanzt, ich muss schnell rein, wenn schon mal Bush gespielt wird, und noch dazu Machinehead. Das ist nach dem ganzen Techno der erste vernünftige Song.

Ich werfe die Zigarette vom Balkon und drücke mich an Ambros vorbei zur Tür.

3

Die Fingerfallen hat, glaube ich, die Dani mitgebracht. Alle sitzen am Bett oder auf dem Boden und wollen spielen, auch Ambros.

Das geht so: Jeweils zwei Leute spielen zusammen. Jeder steckt auf einer Seite einen Finger in die Fingerfalle. Und dann geht es darum, wer sich als Erster befreit.

Das ist eigentlich kein Spiel, eher ein Scherzartikel. Und wenn man ein Spiel daraus macht, ist es kindisch. Aber nach dem Bier und den Zigaretten ist es dann doch ganz lustig. Warum Ambros mitmacht, frage ich mich aber schon. Er hat als Einziger hier drin keinen Tropfen getrunken. Ambros trinkt nie. Er hat eigentlich noch nie erzählt, warum, aber ich habe ihn auch nie gefragt.

Es geht los. Bernd hat sich Dani geschnappt und alle anderen haben sich auch schon zusammengefunden, also bleiben nur Ambros und ich. Ambros hat eine Fingerfalle in der Hand. Bernd lacht und sagt, geht schon, Benjamin, musst ihn dem Ambros reinstecken. Meine Ohren werden heiß. Ich will sagen, Bernd, halt den Mund, aber Ambros hat den Finger schon drin und hält mir die Falle hin. Jetzt muss ich. Alle schauen mich an. Ich stecke meinen Finger rein. Bernd stöhnt. Na, dem werde ich was erzählen nachher.

Bernd sagt, ich stoppe die Zeit, ich habe eine Casiouhr. Er hat die beste Casiouhr, die mit dem eingebauten Taschenrechner und den vielen Tasten. Aber eine Uhr mit Stoppuhrfunktion haben mehrere von uns, und bevor sie zu streiten beginnen, wer stoppen darf, sagt Dani, dann stoppt ihr halt alle, ich zähle bis drei und dann los.

Bernd grinst Dani an. Der will jetzt alles andere als aus der Falle raus, der würde am liebsten den ganzen Abend da drinbleiben.

Ambros nimmt mit seiner freien Hand meine gefangene Hand und hält sie fest. Ich frage, was soll das, und er sagt nichts. Er bewegt seinen Finger in der Falle nach vorne, zu meinem Finger, bis sie sich berühren. Aber nicht ganz, nur fast, so, dass man gerade spüren kann, dass da ein anderer Finger ist. Dann lockert er das Plastikgeflecht der Fingerfalle und schiebt den Finger weiter gegen meinen, bis sie fest aneinanderstehen. Und dann entspannt sich die Falle und Ambros lässt meine Hand los, streicht auf meinem Handrücken nach vorne und schiebt langsam, mit Daumen und Zeigefinger, die Falle entlang meines Fingers nach vorn, und wir sind frei.

4

Ambros zieht sein T-Shirt aus und wirft es auf seinen Polster. Was sollte das jetzt, frage ich, und er sagt, von was sprichst du. Von dem Streicheln da drüben, sage ich, ich spreche von dem Streicheln da drüben. Was sollte das, sage ich, bist du schwul oder was, und er setzt sich aufs Bett und sagt nichts.

Ich schreie ihn an, sag schon, bist du schwul, und er schreit zurück, schrei mich nicht an, du bist betrunken. Er springt auf und wirft seinen Polster auf den Boden.

Wie er dasteht und die Fäuste ballt. Neben ihm auf dem Boden der Polster und das T-Shirt. Ich packe ihn bei den Schultern. Ich bin nicht betrunken, sage ich.

Er stößt mich weg. Ich schlage ihm mit der Hand ins Gesicht. Fass mich nicht an, schreie ich. Er wirft sich mit dem ganzen Gewicht auf mich, und wir stürzen. Ich versuche, ihm den Arm zu verdrehen, aber er packt mich an den Handgelenken und fixiert mich auf dem Boden.

Ja, sagt er. Ich sage, was meinst du mit Ja. Er atmet schnell und schwitzt auf der Stirn. Er lässt meine Handgelenke los, verlagert sein Gewicht auf seine Knie und kommt mit seinem Gesicht nah an mein Gesicht. Ich spüre meine Erektion. Ja, sagt er und küsst mich auf den Mund.

Ambros Wegener heißt wie eine Krankheit und schmeckt überall ein wenig salzig, außer auf den Lippen. (David Fuchs, 14.10.2016)