München/Wien – Es ist noch ein weiter Weg bis zu den geplanten neuen Regeln für Fernsehen und Videoplattformen, zeigte gerade eine Debatte bei den Münchner Medientagen: Mit Vorschriften über unabhängige Medienbehörden trifft der Kommissionsvorschlag die deutschen Anstalten und stört die gemeinten Länder Polen und Ungarn nicht weiter. Dem Parlament gehen freie Werbezeiten zu weit, deutschen Regulatoren fehlen Regeln für Product Placement, und der österreichische Experte sieht in geplanter Ko-Regulierung nur ein "Placebo", das man besser ganz lässt.

Problemzonen im Überblick

Die Problemzonen der neuen Richtlinie für Audiovisuelle Mediendienste (AVMS) – so heißt die EU-Regelung schon jetzt, um mehr als Fernsehen zu umfassen – im Überblick:

1. Die Sache mit der Unabhängigkeit

Der Kommissionsentwurf für die neue Richtlinie verlangt, dass Aufsichtsbehörden über Rundfunk und Co rechtlich einerseits von der staatlichen Regierung unabhängig sein müssen, andererseits auch von den Sendern, die sie kontrollieren. "Man zielt auf die Richtigen, trifft aber den Falschen", sagt die deutsche EU-Abgeordeten Petra Kammerevert in München. Sie ist eine von zwei Referentinnen des EU-Parlaments zur geplanten neuen Richtlinie.

Vor allem Deutschland hat ein Problem damit: Während in Österreich etwa seit 2010 nach einem EU-Verfahren gegen die Republik die unabhängige Medienbehörde KommAustria für die Kontrolle auch des ORF zuständig ist, sind ihre deutschen Pendants, die Landesmedienanstalten, für öffentlich-rechtlichen Rundfunk nicht zuständig. Dort sind die Aufsichtsgremien der Anstalten zugleich das Kontrollorgan. Kammerevent: "Man würde ein ausgesprochen gut funktionierenden System der Binnenkontrolle – über die Rundfunkräte des öffentlich-rechtlichen Rundfunks – zerschlagen". Das gelte auch für andere Mitgliedsstaaten (Österreich kann da nicht gemeint sein).

"Man zielt auf die Richtigen, trifft aber den Falschen": EU-Abgeordnete und Richtlinien-Referentin Petra Kammerevert bei den Medientagen München mit Hans Peter Lehofer, Richter am österreichischen Verwaltungsgerichtshof.
Medientage München

"Ob das binnenplurale System wirklich so gut funktioniert"

Hans Peter Lehofer, ehemaliger Chef der österreichischen Medienbehörde und inzwischen Richter am Verwaltungsgerichtshof, muss da in München "ketzerisch" dazwischenfragen: "Ob das binnenplurale System in Deutschland wirklich so gut funktioniert, sei dahingestellt: Die verbotene Schleichwerbung in der ARD-Serie "Marienhof" sei ebensowenig "durch binnenplurale Kontrolle aufgedeckt worden wie bei 'Wetten, dass...?" Bei der Samstagabendshow verurteilte erst die österreichische Medienbehörde verbotene Audi-Werbung im Programm.

"Die man treffen will, die trifft man nicht"

Kammerevert hat "nie behauptet, das deutsche System wäre perfekt". Aber: "Es wäre nicht besser, würde man das den Landesmedienanstalten überlassen."

Die EU-Abgeordnete zur geplanten Trennung der Kontrolle: "Die man treffen will, die trifft man nicht." Kammerevert: "Das Erstaunliche ist, dass weder Polen noch Ungarn im Rat irgendwelche Probleme mit dieser Regelung haben. In Polen und Ungarn sind die Regulierungsstellen rechtlich getrennt von der Regierung wie von den beaufsichtigten Medien. – Aber wir wissen, dass das nicht dazu führt, dass sie tatsächlich unabhängig sind, sondern sehr wohl regierungsgesteuert arbeiten und agieren."

Mit der von der Kommission geplanten Regelung "wären Polen und Ungarn nicht angreifbar". Sie definiert als Ziel: "Die Unabhängigkeit anderweitig stärken, ohne mit der rechtlichen Trennung existierende Systeme zu zerstören." Und "der Kommission mehr Handhabe zu geben, gegen solche Staaten vorzugehen".

Keine Eingriffe vorab

Kammerevert will "die Unabhängkeit der Anbieter sicherstellen", indem die Richtlinie den Mitgliedsstaaten vorschreibt: "Es darf vorab keinen Einfluss der Regulierungsstellen auf die Inhalte geben."

Das Parlament wandte sich indes gegen eine EU-Vorgabe, die es Staaten erschweren sollte, die Vorsitzenden von Medienbehörden abzusetzen. Das wäre ein Eingriff in die Organisationsfreiheit der Mitgliedsstaaten, begründet das Kammerevert. "Ein verheerendes politisches Signal", sagt indes Thomas Langheinrich, selbst Präsident Landesanstalt für Kommunikation in Baden-Württemberg: Man möchte nicht glauben, welchen "politischer Druck auf die Medienaufsichtsbehörde" selbst eine "popelige Entscheidung über einen Fernsehveranstalter" bedeuten könnte. Da sei es schon wesentlich, dass ihm "kein Oberregierungsrat oder Ministerialrat sagt, das darfst du und das nicht", und dass er nur "bei Wegfall der Eignung" abzulösen wäre.

Lehofer, selbst einmal Chef der KommAustria, und "nicht so abgesetzt worden": Eine solche Regelung hätte wohl den ungarischen Kollegen geholfen – "bevor die jetzigen inthronisiert wurden".

Mega-Medienbehörde

Auf einige Skepsis, etwa in der Arbeitsgruppe des Rates, stößt auch eine neue Meta- oder Mega-Medienbehörde im Kommissionsentwurf: "ERGA" wird das vorgeschlagene gemeinsame europäische Gremium der einzelstaatlichen Regulierungsbehörden abgekürzt. Wie Behörden und Metabehörden ihre Zuständigkeiten aufteilen, gilt unter Verhandlern als noch "völlig unklar".

2. Selbstregulierung und Ko-

Wo wir schon bei der Regulierung (und einigen Unklarheiten damit) sind: Die Selbstregulierung der Anbieter über Verhaltenskodices will die geplante Richtlinie "stärker mit dem Element der Ko-Regulierung flankieren", sagt Kammerevert. Wenn nämlich "Selbstregulierung nicht gewünschten Effekt erzeugt".

Hans Peter Lehofer rät recht nachdrücklich ab. Er stellt hinter "Selbstregulierung und Ko-Regulierung "ein ganz großes Fragezeichen – das ist eine Placeboregulierung: Entweder man braucht Regulierung, weil Selbstregulierung zum Beispiel nicht funktioniert, dann soll man staatliche Normen schaffen. Oder man braucht sie nicht." Die Kombination der beiden "verfielfacht die Nachteile beider Systeme": ein behördliches Verfahren mit Bedacht auf die vorangegangene Selbstregulierung. Lehofer: "Wenn ich den Mut zur Regulierung nicht habe, lasse ich es besser."

Und noch ein kleiner Seitenhieb auf das deutsche System und seine "Skurrilität": "Man könnte in Deutschland ohnehin schon von Selbstregulierung sprechen: der Bayerische Rundfunk ist Aufsichtsbehörde für die Erfüllung der Mediendiensterichtlinie – über sich selbst." Lehofer: "Sie werden außerhalb Deutschlands niemanden finden, der das als unabhängige Regulierung ansieht." Nachsatz: "Nicht, dass die Staatskanzleien notwendigerweise immer viel effektiver wären."

Münchner Medientage zur TV-Richtlinie: EU-Abgeordnete Petra Kammerevert (SPD), Verwaltungsrichter Hans Peter Lehofer, Moderator Jörg Ukrow (Institut für Europäisches Medienrecht EMR), Thomas Langheinrich (Landesanstalt für Kommunikation Baden-Württemberg) und Ross Biggam (Discovery).
Medientage München

Thomas Langheinrich, Chef der Medienanstalt Baden-Württtemberg verteidigt die "regulierte Selbstregulierung" etwa für Youtube. Auch als "Entlastungsfunktion" für die Medienbehörden.

Langheinrich rät dem Parlament auch davon ab, alle Werberegeln auf alle Videoplattformen zu übertragen. Nicht nötig, denn: "Die Schmink-Tutorials auf Youtube regulieren wir schon – das sind in unserem Verständnis AV-Mediendienste." Das Parlament könnte es ruhig beim Kommissionsvorschlag belassen, Werberegeln nur auf "fernsehähnliche" Inhalte zu beschränken.

3. Die Schleichwerbung und die Schmink-Tutorials

Wie kommt das EU-Parlament auf Schmink-Tutorials? Es geht um die Kennzeichnung von Werbung, um Schleichwerbung. Kammerevert will dem "scheinheiligen Eindruck" vorbeugen, dass solche Tutorials "von jungen Menschen selbstlos erstellte Verbraucherinformationen oder gar Bildungsinhalte" sein könnten – wenn zum Beispiel die Hersteller der verwendeten Produkte dafür zahlen.

Und dann will die Kommission beim Product Placement generell just den Begriff der "unangemessen prominenten" Präsentation streichen?, fragt sich Medienanstaltsleiter Langheinrich bei den Medientagen. Der Punkt sei kontrolllier- und justizierbar, bis hinauf zu deutschen Höchstgerichten.

Langheinrich: "Wenn wir auf der einen Seite für die Liberalisierung der Werbezeiten sind, dann können wir nicht auf der anderen Seite die Produktplatzierung noch so öffnen, dass man dort noch zusätzliche Werbung ermöglicht." Womit wir bei der entgrenzten Werbung wären.

4. Entgrenzte Werbung

Bisher dürfen Fernsehsender nur 20 Prozent einer Programmstunde mit Werbung füllen, Spielfilme, Nachrichten oder Kindersendungen nur alle 30 Minuten für Werbung unterbrechen.

Der Kommissionsvorschlag wirft das Stundenlimit über Bord: 20 Prozent der Sendezeit für Werbung in der Zeit von 7 bis 23 Uhr. Wo die Sender sie platzieren, ist ihnen überlassen.

Das EU-Parlament tendiert nun – laut Referentin Kammerevert – zu einer Sonderregelung für die Primetime: 20 Prozent der Sendezeit von 20 bis 23 Uhr, in der Zeitzone frei verteilt, und 20 Prozent der Sendezeit von 7 bis 20 Uhr.

5. Und sonst?

Vorschriften für die integrale, unveränderte Weiterverbreitung von Inhalten dürften eher keine große Debatten hervorrufen. Diskussionsbedarf dürfte es etwa noch geben über Mindestquoten für europäische Programme auch über das lineare Fernsehen hinaus. Ebenso über Vorgaben für die Auffindbarkeit von Angeboten.

Verwaltungsrichter Hans Peter Lehofer mit dem Vizechef des Saarbrückener Instituts für Europäisches Medienrecht (EMR), Jörg Ukrow, der das Panel moderierte.
Medientage München

"Die Auffindbarkeit von öffentlich-rechtlichen Inhalten ist ein sehr deutsches Thema", sagt Lutz Reulecke von Sky Deutschland bei den Medientagen in München: Er appelliert, "mit Augenmaß" vorzugehen und nicht "eine bestimmte Ordnung und Sortierung aus der liniearen Welt" in jene des Streamings und Programmabrufs zu übertragen. Reulecke: "Wir müssen aufpassen, dass es nicht zu einer Marktanteilssicherungsregelung kommt." "Wir geben nur den Mitgliedsstaaten die Möglichkeit, das zu regeln", erwidert Kammerevert.

Wie geht es weiter?

Es dürfte noch länger dauern, bis die EU zu neuen Regeln für Fernsehen und andere Videoplattformen findet: 1000 Änderungsanträge langten bisher bei der EU-Abgeordeten Kammerevert ein. Bis Jänner, Februar will sie eine "kohärente Parlamentsposition" für die neue Richtlinie finden. Parallel verhandeln Vertreter der Mitgliedsstaaten in einer Arbeitsgruppe des Rats, meist im Wochenrhythmus, über neue (oder keine) Werbelimits und Schleichwerbung, über von Regierung und Sendern unabhängige Kontrolle, über Regeln für Videoplattformen. Dann entscheidet noch der Parlamentsausschuss, das Parlamentsplenum und der Rat. Von der Umsetzung in den Mitgliedsstaaten noch gar nicht zu reden. (fid, 29.10.2016)