Ex-Sektionschef Niki Kowall hat den Vorsitz 2014 abgegeben.

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Die Ökonomin Eva Maltschnig ist seither rote Chefrebellin.

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Sektionsmitglied Christopher Berka leitet Kerns Kabinett.

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Renner-Institut statt Sektion: Maria Maltschnig.

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Die SPÖ-Zentrale in Wien.

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Der Psychotherapeut hat vergangene Nacht schlecht geschlafen, fällt er gleich mit der Tür ins Haus: "Ich bin der Günther, und ich habe gestern geträumt, dass die Politik keine Chance hat, sich gegen die Konzerne durchzusetzen. Seither bin ich im Wiegel-Wagel", erzählt er den anderen. Freundliche Gesichter, nüchterner, weißer Raum, ein paar Bilder an der Wand, Stühle, das Nötigste. Die Holztische wurden gerade zu einem Halbkreis zusammengeschoben. "Möchtest du lieber mehr links der Mitte sitzen?", fragt ein Mann seine Sitznachbarin und lächelt. Sie tauschen Plätze.

Nicht ganz zwanzig Leute sind zur Sitzung gekommen. "Ich bin die Andrea. Ich bin seit zwei Jahren dabei und in der Frauengruppe", meldet sich dann eine andere. "Ich bin Bernhard und gescheiterter Politikwissenschafter", tönt es von gegenüber.

Es ist die alldonnerstägliche Therapiestunde für unzufriedene Sozialdemokraten. Sektion 8 nennt sich das als rotes Rebellentrüppchen bekannt gewordene Projekt. Es ist noch nicht lange her, da wurde die Gruppe von der SPÖ-Parteispitze als ein Haufen wildgewordener Jugendlicher abgetan. Sie galten den mächtigen Genossen als die linken Störenfriede aus dem neunten Bezirk. Doch die werden sich schon zerstreiten und bald wieder aufgeben, war die stille Hoffnung der braven Funktionäre.

Inzwischen besteht die Sektion 8 seit fast zehn Jahren. Man könnte sagen: Einst der Stachel, der in die rote Achillesferse gepikst hat, ist sie nun im Herzen der Sozialdemokratie angekommen. "Wir wollen eine Bewegung sein, die nachhaltig auf die Politik der SPÖ Einfluss nimmt", schreibt sich die kleine rote Bezirkseinheit von jeher auf die Fahnen. "Mastermission accomplished", sagt Sektionsleiterin Eva Maltschnig nun, wenn man sie auf ihre ältere Schwester anspricht.

Maria Maltschnig, ebenfalls Mitglied der Sektion 8, wurde nämlich gerade zur Direktorin des Karl-Renner-Instituts ernannt. Die 31-jährige Ökonomin leitet somit fortan nicht nur die politische Akademie der SPÖ, auch das neue sozialdemokratische Parteiprogramm, das sich gerade in Ausarbeitung befindet, soll maßgeblich ihre Handschrift tragen. So wünscht es der Kanzler.

Sektion und Pensionistentreff

Christian Kern hatte Maltschnig bereits aus seiner Zeit bei der ÖBB mit ins Kanzleramt genommen und sie zu seiner Kabinettschefin gemacht. Nach ihrem Wechsel war der Posten des vielleicht mächtigsten Beamten im Land wieder vakant. Bekommen hat ihn: Christopher Berka, auch ein Mitglied der Sektion 8.

Wer ist also diese Truppe, die sich von der roten Persona non grata hin zum neuen Personalpool der SPÖ entwickelt hat?

Sektionen sind die unterste Ebene der heimischen Sozialdemokratie, kleine Einheiten innerhalb von Bezirken. Früher – Anfang des 20. Jahrhunderts und nach dem Zweiten Weltkrieg – waren sie das Gerippe der SPÖ. In den Sektionen traf sich die Basis zum Austausch. "Seit sich die Gesellschaft verändert hat und es die Arbeiterklasse womöglich gar nicht mehr gibt, haben sich auch die Sektionen verändert", sagt der Politologe Anton Pelinka. "Die meisten sind heute Treffpunkt für Pensionistenjausen."

Die Sektion 8 ist, was man getrost als Ausnahmesektion bezeichnen kann. Sie wurde im Jahr 2007 in Wien-Alsergrund, dem neunten Bezirk, gegründet – einst aus Protest gegen das "inhaltlich und personell von der ÖVP dominierte Kabinett" des Sozialdemokraten und damaligen Kanzlers Alfred Gusenbauer.

Rund 40 junge Menschen, in erster Linie Akademiker, Absolventen der Wirtschaftsuniversität Wien mit einschlägiger Vergangenheit in einer roten Vorfeldorganisation – also dem Verband Sozialistischer Studenten (VSStÖ) oder der Aktion kritischer Schüler (AKS) – schlossen sich zusammen, um innerparteilich Opposition zu spielen.

"Testwahl" im Internet

Der erste große Coup gelang den roten Rebellen und ihrem damaligen Chefrevoluzzer Niki Kowall mit einem Antrag zur Abschaffung des kleinen Glücksspiels am SPÖ-Landesparteitag im Jahr 2011 – der gegen den dezidierten Willen der Parteispitze angenommen wurde. Das kleine Glücksspiel ist in Wien deshalb inzwischen passé.

Zuletzt fiel die Protestsektion mit einer Aktion auf, kurz bevor Ex-Kanzler Werner Faymann das Handtuch warf: Um darauf aufmerksam zu machen, dass die SPÖ eine undemokratische Partei sei, in der die Spitzenfunktionen im Hinterzimmer besetzt werden, startete die Sektion 8 im Internet eine "Testwahl". Unter anderem auf der Kandidatenliste: der aufmüpfige rote Bürgermeister Andreas Babler, Managerin Brigitte Ederer, die Wiener Sozialstadträtin Sonja Wehsely.

Klar als Sieger der kleinen Umfrage ging allerdings ein anderer hervor: Christian Kern, der dann bekanntlich auch Kanzler wurde. Also schon wieder – Mission accomplished? "Wir messen ihn mit den gleichen Maßstäben wie jeden Parteivorsitzenden davor. Wir haben kein ausschließlich positives Bild von Kern", sagt Oliver Zwickelsdorfer, stellvertretender Sektionsvorsitzender.

Marsch durch Institutionen

Und doch hat die rote Linke dem neuen Parteichef einiges zu verdanken: "Kern ist dabei, sich seine eigenen Personalpools zu schaffen. Er zieht Leute an sich heran, die sich von der alten Parteispitze distanziert hatten, und die Rebellen lassen sich gerne an die Brust nehmen", sagt der Politikwissenschafter Pelinka. "Der Marsch durch die Institutionen hat begonnen. Die große Frage ist nun, ob die Rebellen das System ändern oder das System sie."

Eva Maltschnig sieht das anders: "Die, die oben sitzen, finden uns zu einem großen Teil immer noch unangenehm. Es hat niemand eine Funktion bekommen, weil er in der Sektion 8 ist, sondern eher, obwohl er bei uns ist." Es gehe ihr nicht darum, ein möglichst großes Stück vom roten Kuchen abzubekommen, es gehe darum, dass der rote Kuchen wieder mehr Bürgern schmeckt.

Zumindest auf kleiner Ebene weiß Maltschnig auch, wie man Politik wieder schmackhaft macht. Während die SPÖ kontinuierlich Mitglieder wie auch Wahlen verliert, herrscht in der Sektion 8 recht reger Zulauf: Rund 330 Mitglieder zählt die Gruppe inzwischen, etwa 50 Leute würden sich aktiv einbringen.

Wunderwuzzis gibt es nicht

"Wir zeigen, wie man Leute für politische Arbeit gewinnen kann – nämlich indem man Themen in der Öffentlichkeit kampagnisiert und für die Sache kämpft. Ich verstehe eigentlich nicht, warum das niemand kopiert", sagt Zwickelsdorfer.

Die jungen Rebellen von einst sind inzwischen aber auch mit dem System erwachsen geworden: "In der Politik braucht man einen langen Atem. Das haben wir selbst oft genug erlebt", sagt Mehrdokht Tesar, Sprecherin der Sektion 8. "Deshalb lassen wir uns auch von niemandem blenden. Einen Wunderwuzzi gibt es nicht. Auch nicht einen namens Christian Kern." (Katharina Mittelstaedt, 5.11.2016)