Erdogans Pragmatismus und seine Adaptationsfähigkeit erlauben ihm politische Kehrtwenden und Spagate.

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Seit dem Putschversuch erlebt die Türkei derzeit zweifelsohne die ereignisreichsten Tage. Zuerst wurden die führenden Mitarbeiter der ältesten Zeitung der Türkei, "Cumhuriyet", festgenommen. Anschließend wurde Kadri Gürsel, Aufsichtsratsmitglied des International Press Institute, des ältesten Instituts zur Stärkung der Pressefreiheit mit Sitz in Wien, verhaftet, und gleich darauf die Spitze der drittgrößten Partei des Landes, HDP. Weiters gab es einen Bombenanschlag mit acht Toten und 100 Verletzten in Diyarbakır sowie einen Angriff mit Raketenwerfern auf türkische Truppen in Nordsyrien. Der oft verwendete Satz hat wieder einmal seine Gültigkeit bewahrt: In einer Woche passiert in der Türkei mehr als in den meisten anderen Ländern in einem ganzen Jahr.

Undemokratische Verhältnisse

Es wird schon lange von undemokratischen oder illiberalen Verhältnissen in der Türkei gesprochen, die neuesten Ereignisse aber deuten daraufhin hin, dass noch wesentlich mehr Repression möglich ist. Nach der Verhaftung der HDP-Politiker wurden Donnerstagnacht Facebook, Twitter, Youtube und Whatsapp landesweit blockiert. Zudem wurden die wichtigsten VPN-Netzwerke, die eine Umgehung der Internetsperren ermöglichen, ebenfalls blockiert.

Auf einem Parteitag sagte der türkische Innenminister, dass in Südostanatolien lebende Mitglieder seiner Partei einen Waffenschein bekommen würden. Seit dem Putschversuch dürfte sich ein Trend zur Bewaffnung entwickelt haben, vor allem in den Reihen regierungsnaher Personen. Der Bürgermeister der Stadt Rize, Erdoğans Geburtsstadt, erklärte, er werde die Bevölkerung selbst bewaffnen, sollte es wieder zu einem Putschversuch kommen.

Auch die Debatte über die Todesstrafe wurde erst vor ein paar Tagen erneut angeheizt, als Erdoğan verkündete, dass das Parlament bald über die Einführung diskutieren werde. Am Freitag wurde auf Twitter ein Video geteilt, das Erdoğans Rede auf einer großformatigen Leinwand an der Fassade eines Istanbuler Einkaufszentrums zeigte. All das trägt dazu bei, dass man der regierungsnahen Propaganda kaum entgehen kann.

Demokratie à la Türkei

In einem Al-Jazeera-Interview sprach Erdoğan davon, dass seine Regierung die Bedeutung des Worts Demokratie neu definiert habe. Die aktuellen Entwicklungen deuten darauf hin, dass Teile der türkischen Politik und Bevölkerung etwas ganz eigenes unter dem Begriff Demokratie verstehen.

Im westlichen Narrativ wird Erdoğan oft vereinfachend als Islamist dargestellt. Das Wort, das ihn bei weitem am besten beschreibt, ist aber nicht Islamist, sondern Pragmatiker. Sein oft unbeachteter Pragmatismus geht außerdem mit einer Anpassungsfähigkeit einher, die es ihm erlaubt, die größten Kehrtwenden und Spagate durchzuführen. Gemeinsam mit der Unterstützung eines riesigen Medienpools schafft er es etwa, sich als Helden feiern zu lassen, wenn die Türkei ein russisches Flugzeug abschießt, und zugleich seine Entschuldigung bei Putin als Erfolg zu vermarkten. Diese Eigenschaft war auch der primäre Grund dafür, dass er es schaffte, bei der Wahl im vergangenen Jahr sowohl von den Ultranationalisten als auch von der prokurdischen Partei Stimmen zu gewinnen.

Von "Orbánisierung" und "Erdoğanisierung"

Als pragmatischem Machtpolitiker bietet sich Erdoğan eine breite Palette an Handlungsmöglichkeiten. Das Spektrum erstreckt sich von der Einleitung der Friedensgespräche mit der PKK im Jahr 2005 bis hin zu den heutigen Ereignissen und einer politischen Allianz mit den Ultranationalisten. Erdoğan hat als autoritärer Pragmatiker deshalb wesentlich mehr Berührungspunkte mit einem Viktor Orbán oder einem Heinz-Christian Strache als mit einem Mahmoud Ahmadinejad.

Die Türkei wird sich in naher Zukunft wohl weder der EU noch den europäischen Werten annähern. Aber in Zeiten der "Orbánisierung" vielleicht Europa der Türkei? Natürlich kann die Türkei nicht Österreich gleichgesetzt werden. Dennoch sollte es ein Warnsignal sein, wenn der Obmann der FPÖ – einer Partei mit immerhin rund 30 Prozent Zustimmung in Umfragen – offen Orbán als sein politisches Vorbild deklariert. Das größte regierungskritische Blatt "Népszabadság" wurde an einen Vertrauten Orbáns verkauft. Ein Schicksal, das viele ehemalige oppositionelle Blätter in der Türkei teilen.

Postfaktische Welt

Die FPÖ schafft es aber auch ohne Medienimperium, den Diskurs zu dominieren. Die Statements von Norbert Hofer über Gott und das Bürgerkriegszitat der Freiheitlichen haben im vergangenen Monat für Schlagzeilen gesorgt. Eine weitere Gemeinsamkeit dieser populistisch-nationalistischen Bewegungen ist ihre relative Immunität gegen negative Schlagzeilen. Durch die Verwendung von Doomsday-Szenarien und die Überemotionalisierung vergiftet die FPÖ hierzulande den Diskurs.

Zweifelsohne sind Migration und die Flüchtlingskrise Themen, die die österreichische Gesellschaft intensiv beschäftigen und worüber Diskussionsbedarf herrscht – jedoch kein gesundes Gesprächsklima. Erkennbar vor allem daran, dass im drittsichersten Land der Welt in Wahlumfragen jenen der Vorzug geben wird, die Angst vor einem Bürgerkrieg schüren. Wenn die wesentlich realere Gefahr einer (Teil-)Erdoğanisierung oder Orbánisierung der Gesellschaft nicht ankommt, dann zeigt das, was einige Skeptiker schon lange befürchteten: Wir leben in einer sogenannten postfaktischen Welt. Das orientalistische Weltbild sieht den Orient oft als eine rückständige Region an, die noch eine zivilisatorische Entwicklung benötigt. Vielleicht aber ist eine Erdoğan-Türkei oder ein Orbán-Ungarn nur ein dunkler Blick in die Zukunft Österreichs. Deswegen – aber auch wegen der zahlreichen Verbindungen, die zwischen der Türkei und Österreich herrschen – sollten die Entwicklungen in der Türkei und die Zukunft des Landes eine große Relevanz für uns haben. (Tuna Bozalan, 8.11.2016)