Kommunikationswissenschafter Michael Litschka.

Foto: Claudia Mann

Hate Speech, Filter Bubble, Echos, Privacy-Verletzungen, Gewalt, geringe Qualitätsstandards, Untergang des traditionellen Journalismus: Diese und viele andere ethische Problemfelder beschäftigen uns (unter anderem auch in dieser Blog-Reihe) in Zeiten der Digitalisierung der Medienlandschaft.

Und immer öfter stellen wir uns die Frage nach der Verantwortung: Wenn Beiträge anonymisiert veröffentlicht werden, wenn der Einfluss der Werbewirtschaft auf journalistische Arbeitsweisen intransparent bleibt, wenn man Konzentrationstendenzen der Medienwirtschaft bestenfalls auf Marktfehler zurückführt, scheint eine konkrete Zuweisung von Verantwortung und damit oft auch Sanktionierungsmöglichkeiten schwierig.

Im heutzutage wichtigen Modus der "Produsage", also der Tatsache, dass wir alle nicht mehr nur Medien konsumieren und nutzen, sondern gleichzeitig auch produzieren und distribuieren – über Blogs, als BürgerjournalistInnen, in Facebook-Gruppen, als derStandard.at-UserInnen –, wünschen wir uns aber, dass das möglich wird; zu groß sind in letzter Zeit die obengenannten Phänomene geworden.

Anreize über Regeln

Die Antwort der modernen angewandten Ethik, etwa der Wirtschaftsethik und der Medienethik, war lange Zeit, von dem Versuch abzulassen, Verantwortung individuell zuzuweisen, sondern über Regeln und Institutionen Anreize für ethisch legitimierbares Handeln im Bereich der Medien zu schaffen.

Die Vorschläge hierfür waren vielfältig und reichten von Selbstregulierungen der Branche wie im Fall des Presserats oder der Selbstverpflichtung auf Ethikkodizes über finanzielle Anreizsysteme wie Subventionen und Steuererleichterungen bis hin zu teils betriebswirtschaftlich, teils ethisch motivierten Maßnahmen der Corporate Social Responsibility und des Stakeholder-Managements.

Das sollte dazu dienen, Individuen von einer zu hohen Belastung durch normative Vorgaben zu befreien und generelle Richtlinien für Medienproduktion, -distribution und -rezeption vorzugeben.

Individualisierte Verantwortung

Doch viele dieser Vorschläge haben den klassischen professionellen Journalismus im Fokus und sind mit Medienqualität, Medienmanagement und der journalistischen Ethik beschäftigt, weniger mit den eigentlich von uns allen als Produsern zu verantwortenden interaktiven, digitalen und öffentlichen medialen Inhalten.

Wir, das nicht länger passive, sondern aktive Publikum, können uns nicht länger vor einer individualisierten Verantwortung drücken. Nach einer Renaissance der Publikumsethik verlangen dann auch im deutschsprachigen Raum einige Medienphilosophen und Ethiker wie Rüdiger Funiok und Matthias Rath. Sie berufen sich auf Kant'sche Pflichtenethik, den Habermas'schen Öffentlichkeitsbegriff und eine auf Kritikfähigkeit fußende Medienkompetenz.

Letzteres meint, dass wir uns und unsere Kinder mit den sozialen, politischen und ökonomischen Bedingungen der medialen Praxis vertraut machen, die handwerklichen Fähigkeiten der Produsage erlernen und deren praktische Konsequenzen erkennen und uns immer auch nach der Verallgemeinerbarkeit – Kant würde sagen: Universalisierbarkeit –unserer medialen Handlungen fragen sollen.

Medienpädagogik gefordert

Das erfordert zumindest zwei Dinge: eine früh ansetzende und ethisch aufgeklärte Medienpädagogik, die über technische Fertigkeiten weit hinausgeht, sowie ein Commitment der Medienpolitik und der großen Medienunternehmen, die Möglichkeiten und (ethischen) Grenzen der Produsage in ihre Strategien einzubeziehen.

Ein Beispiel: Es gibt Richtlinien von Facebook, wie mit unerwünschten Postings umzugehen ist. Diese sind aber nicht medienethisch fundiert, sondern wirken oft wie Ad-hoc-Maßnahmen, wenn wieder einmal starke öffentliche Kritik auftaucht. Das hat auch nichts mit paternalistischen, von oben herab wirkenden Regulierungswünschen oder mehr Staatseinfluss zu tun, sondern entspricht laut vielen empirischen Studien durchaus dem Empfinden der Medienakteure.

Eine von uns vor einigen Jahren durchgeführte Studie unter anderem im Bereich Medienmanagement (Litschka et al. 2011) zeigte, dass der Wunsch nach ethischer "Guidance", nach ethischer Kompetenz, nach ethischen Analysetools gerade bei Akteuren groß ist, die in der Medienproduktion und -distribution tätig sind. Nicht nur das, sogar das intuitive Verständnis für recht komplexe Fragen der Ethik (Was ist noch gerecht? Was heißt es, sein Handeln zu legitimieren und verallgemeinerbar zu machen? Welche Freiheiten brauchen wir, und wo können diese zu unserem gemeinsamen Nutzen auch eingeschränkt werden?) war überraschend hoch.

Der Schluss liegt nahe, dass das auch in der Mediennutzung so sein könnte und wir somit doch das schaffen, was in den vergangenen Jahren mit Sicherheit zu kurz gekommen ist, sowohl in der Forschung als auch der Medienpraxis: eine Verantwortung auf Basis akzeptierter ethischer Ansätze für das Phänomen Produsage zu definieren und in unserer Gesellschaft auch vehement einzufordern. (Michael Litschka, 14.11.2016)