Literaturwissenschafter Hans Ulrich Gumbrecht hält Vergleiche zwischen Trump und NSDAP für Denkfaulheit.

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STANDARD: Was dachten Sie, als Sie erstmals vom Sieg Trumps hörten?

Gumbrecht: Ich war auf dem Weg von Washington nach Frankfurt und dachte mir: "Das kann bitte nicht wahr sein!" Ich wollte das in mein Hirn reinhämmern. Mit der Zeit habe ich aber entdeckt, dass ich es auf irgendeiner Ebene schon erwartet habe. Man kann das klassisch verdrängt im freudianischen Sinn nennen, weil ich mir immer wieder einredete: "Die US-Wähler sind doch besser als ihr Ruf!"

STANDARD: Und was konkret haben Sie verdrängt?

Gumbrecht: Dass bestimmte Vorstellungen von Wohlfahrtsstaat – Arbeit, ausgewogene Sozialleistungen für alle, Weltoffenheit, freier Zugang zu Markt und Bildung – alles ohnehin schwer umsetzbar, nicht so konsensuell sind, wie wir uns das als Intellektuelle vorstellen. Ich bin bestürzt und beschämt wegen dieses Wahlsieges. Nicht, weil ich mich nun geniere, mit meinem amerikanischen Pass durch den Zoll zu gehen, sondern weil wir uns in unserer Naivität einiges zur Beglückung der Menschheit ausgedacht haben, was aber viele offensichtlich gar nicht so haben wollen. Und genau deswegen haben sie Trump gewählt. Sie sind gar nicht alle in einer prekären Lage, sie sind eher aus der Mittelschicht, fühlen sich aber abgehängt, haben einen einmal erreichten Status verloren, fühlen sich durch Zuwanderer bedroht und glauben, etwas Besseres verdient zu haben.

STANDARD: Was wäre also jetzt zu tun?

Gumbrecht: Man muss sich jetzt fragen: Welche Chancen gibt es, die Trump-Wähler für die parlamentarische Demokratie, für die Gesellschaft zurückzugewinnen. Die haben ja eigentlich keine Lobby, sie werden als unsympathisch, als rassistisch bezeichnet, als ganz und gar getrieben von ihrem Ressentiment. Wir müssen uns fragen: Gibt es eine Möglichkeit, deren Interessen, die vielleicht sogar berechtigt sind, wahrzunehmen und diese Menschen wieder zu integrieren. Das sollte unter keinen falschen Prämissen stattfinden, man darf dabei auch nicht herablassend sein. Fragen wir uns doch: "Gibt es Dinge, die diese Leute mit Recht fordern und mit Recht kritisieren?" Aber das Problem ist vielleicht, dass wir uns genau das, weil wir ja politisch korrekt sein wollen, gar nicht zu fragen trauen.

STANDARD: Unmittelbar nach dem Wahlsieg ging eine Schockwelle durch soziale Medien wie Facebook. Viele Menschen haben Angst. Verstehen Sie diese Gefühle?

Gumbrecht: Grundsätzlich muss man das alles ernst nehmen. Ich würde mich da nicht lustig machen wollen, bin auch nicht der Macho, der sich vor nichts fürchtet. Die Ängste sind jedoch zum Teil recht irrational: Eine Kollegin aus Berkeley meinte, sie werde nun nicht mehr so wie bisher jeden Donnerstag nach Stanford kommen. Sie könne ihre Kinder nicht allein lassen, es sei zu gefährlich. Bei einem NZZ-Forum in Berlin wurde ich doch tatsächlich gefragt, ob es nicht sinnvoll wäre, gleich in der deutschen Bundeshauptstadt zu bleiben. Kurz gesagt: Ich halte die Assoziation, mit Trump werde die systematische Freiheitseinschränkung kommen, für falsch. Ich glaube eher, dass er imstande sein könnte, Regeln völlig aufzuheben, Steuern zum Beispiel, sodass am Ende das System des amerikanischen Staates wegen zu viel Freiheit implodierte.

STANDARD: Warum sollte Trump das tun?

Gumbrecht: Trump ist völlig unberechenbar, weil noch nicht klar ist, wie ernst er seine Ankündigungen wirklich nimmt. Das ist es, wenn Sie so wollen, was mir am meisten Sorge macht. Nicht so, dass ich nicht schlafen kann. Aber was wäre, wenn dieser Mann aufgrund einer emotionalen Kurzschlusshandlung Richtung Moskau, nachdem Putin ihn vielleicht ausgenommen hat wie eine Weihnachtsgans, ein paar Raketen schickt? Das wäre das Ende der Menschheit. Nur um das schwärzeste aller Szenarien aufzuzeichnen. Er könnte das als US-Präsident ohne Rücksprache im Parlament veranlassen.

STANDARD: Sie haben doch Angst?

Gumbrecht: Dieses rein auf Resonanz abstimmende, nicht argumentierende, nur auf Emotionen setzende Sich-Präsentieren, das scheint mir schon eine Gefahr zu sein. Dieser Wunsch, von allen Amerikanern geliebt zu werden, der Ehrgeiz, Amerika wieder "groß" zu machen, zeigt die infantile Dimension seiner Psyche. Man kann nur hoffen, dass er wenig von dem, was er sagte, wahr macht. Wenn er viel davon wahr macht, kann das zu einem nationalen und internationalen Desaster führen.

STANDARD: Zur Wissenschaft hat er ja nicht viel gesagt.

Gumbrecht: Ich glaube auch, dass sie ihm egal ist. Er weiß wahrscheinlich, dass selbst in den schlechtesten Rankings 30 der 50 besten Universitäten in den USA sind. Das findet er sicher ganz toll. Er wird nicht versuchen, Harvard oder Stanford zu zerstören. Im Gegenteil: Da er narzisstisch ist, wird er keine Freude daran haben, wenn 80 bis 85 Prozent aller Studenten und Professoren des Landes gegen ihn sind. Ich glaube auch, dass er noch gar nicht weiß, ob er den Klimawandel wirklich in Abrede stellen will. Er hat doch vor der Wahl vor allem das gesagt, was die Leute hören wollten.

STANDARD: Wie sollten Wissenschafter nun reagieren?

Gumbrecht: Der Rektor von Stanford hat am Tag nach der Wahl in einem Brief an Professoren und Studenten geschrieben, dass Trump der rechtmäßig gewählte Präsident sei. Er hat einen intellektuellen Austausch darüber, was zu tun sei, vorgeschlagen. Da war kein Aufruf zur Rebellion. Jeder darf demonstrieren, keine Frage. Mein Vorwurf ist: Der Fatalismus, der nun herrscht, resultiert aus einer Denkfaulheit. Trump ist kein komplexer Charakter. Das System hinter ihm und die nationalistischen Richtungen, die es vor allem in Europa gibt, sind es schon. Diese Situation sollten wir endlich versuchen durchzudenken. Mit Trump hat etwas, das latent schon lange existiert hat, einen ganz anderen Wirklichkeitsindex bekommen. Es klingt politisch korrekt, seinen Wahlsieg mit dem Aufstieg der NSDAP zu vergleichen. Aber intellektuell reicht das nicht aus. Es wird Zeit, dass wir uns der Komplexität der neuen Situation stellen. (Peter Illetschko, 19.11.2016)