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Wer bekommt ein Stück vom Kuchen? "Die Anhänger von Trump sind die Verkörperung der Folgen der Wut", schreibt der Schriftsteller John Irving über die jüngste US-Wahl.

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John Irving ist Schriftsteller. Er lebt – nach 40 Jahren in New England – heute in Toronto. Seit Juli 2015 hat er ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht in Kanada, ist aber weiterhin US-Bürger, -Steuerzahler und -Wähler.


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Im November 2012 befand ich mich auf einer Lesereise durch Deutschland. Am Abend des Wahlsiegs von Obama über Mitt Romney waren meine Frau Janet und ich in München. Wegen der Zeitverschiebung gingen wir schlafen, bevor wir das Ergebnis kannten. Am frühen Morgen, im Dämmerlicht, wurde ich von Gesang geweckt. Ich stand auf und schaute aus dem Fenster. Auf der Straße sah ich deutsche Studenten singen. Ich legte mich wieder hin. "Mach mal den Fernseher an", sagte Janet. "Keine Sorge", antwortete ich, "die Studenten singen bestimmt nicht für Romney." Nun ja, das war eine ganz andere Wahlnacht als die jüngste.

Mein Vater ist Historiker. Als er das Ergebnis der diesjährigen Wahl beklagte, erzählte er mir, als was Alexander Hamilton die wahlberechtigte Bevölkerung einst bezeichnet hatte: als das "große Ungeheuer". Wie es aussieht, hat dieses "große Ungeheuer" jetzt gesprochen. Aber vergessen Sie nicht: 2012 bekam Romney eine Million mehr Stimmen als jetzt Trump. Noch auffälliger ist, dass Obama 6,5 Millionen mehr Stimmen bekam als Hillary Clinton. Wer waren diese 6,5 Millionen Demokratenwähler, die nicht für Clinton stimmten? Jammerige Nichtwähler, die lieber Bernie Sanders als Kandidaten gehabt hätten? Gleichgültige Afroamerikaner? Und wer waren die 29 Prozent Hispanics, die Trump gewählt haben? Demokraten, Männer und Frauen, die Clinton nicht "vertrauten"? Trumps Anhänger haben diese Wahl nicht gewonnen. Eher wurde sie von den Demokraten verloren, die nicht für Clinton stimmen wollten.

Hier muss ich etwas ausholen – in Zeiten vor Trump, sogar lange vor ihm, denn Marc Aurel, der einzige römische Kaiser, der zugleich Philosoph war, starb schon 180 nach Christus. Doch seine Selbstbetrachtungen verraten mehr über diese US-Wahl, als die Medien dazu gesagt haben und jemals sagen werden. Konkret denke ich an das, was Marc Aurel über Wut schrieb: "Wie viel schmerzlicher sind die Folgen von Wut als die Gründe dafür." Die Anhänger von Trump sind die Verkörperung der "Folgen der Wut".

Die jüngste Wahl war ein Kollisionskurs zwischen dem Wunsch nach Wandel – und zwar für viele schlecht oder falsch informierte Wähler einem kindischen Wunsch nach irgendeinem Wandel, selbst zum Schlechteren – und dem nachvollziehbaren, aber undifferenzierten Instinkt, den Status quo oder das "System" für alles verantwortlich zu machen. Die USA waren gespalten zwischen zwei grundverschiedenen und extremen Optionen. Für viele Wähler ging es um die Entscheidung zwischen einem vulgären, narzisstischen Outsider und einer verschlossenen, geheimniskrämerischen Insiderin. Wie Marc Aurel ebenfalls schrieb: "Die gewundenen Fäden des Schicksals woben die beiden zusammen."

Wie gespalten sind die USA? Wie viele Stimmen die beiden Kandidaten bekommen haben, wird noch exakt ausgezählt. Als ich diesen Beitrag schrieb, hatte Clinton 668.500 Stimmen Vorsprung – was wieder einmal Forderungen laut werden ließ, den Präsidenten statt über das Wahlmänner-Gremium direkt zu bestimmen. Jedenfalls haben sich die USA für einen isolationistischen, frauenfeindlichen und xenophoben Weg entschieden – und vergessen wir nicht, dass Trump in beiden Kammern des US-Parlaments eine republikanische Mehrheit hat, die ihm helfen wird, seine Kandidaten für den Supreme Court durchzubekommen. Trump wird das Land zurückwerfen, noch weiter, als es in den Reagan-Jahren geschah. Frauen- und LGBT-Rechte werden abgeschafft oder eingeschränkt. Erreichen können die Republikaner das, indem sie die Regelung dieser Rechte, obwohl sie universell sein sollten, den Bundesstaaten überlassen. Es wäre verheerend, wenn die einzelnen Staaten solche bedeutsamen Entscheidungen fällen dürften.

Die Probleme des Rust Belt

Trumps gewählter Vizepräsident Mike Pence gehörte zu den Ersten, die vorschlugen, die staatliche Förderung für die Planned-Parenthood-Kliniken zu beenden. Voller Eifer wendet er sich gegen LGBT-Rechte und Abtreibung. Unter Trump und Pence könnte es dazu kommen, dass das Grundsatzurteil des Supreme Court, das Abtreibungen legalisiert hatte, aufgehoben wird; im Namen der "Religionsfreiheit" und zur Besänftigung der christlichen Rechten könnte auch der bezahlbare Zugang zu Verhütungsmitteln verschlossen werden. Diese Themen dürften sofort auf die Tagesordnung kommen. Und die neu an den Supreme Court berufenen Richter werden die Rechte von Frauen und sexuellen Minderheiten ein Jahrzehnt lang oder noch länger kontrollieren.

In der internationalen Politik weiß ich gar nicht, wo ich anfangen soll. Ich werde diesen Monat in Mexiko sein, wo ich gerne etwas Hoffnungsvolles sagen würde. Doch unweigerlich fallen mir hier die Worte eines anderen Militärs ein: Wie Marc Aurel war auch Porfirio Díaz Soldat und Philosoph zugleich, und er war sieben Amtszeiten lang Präsident von Mexiko. Die jüngste US-Wahl ist ein schallendes Echo seiner berühmten Worte: "Armes Mexiko – so weit weg von Gott und so nah an den USA."

Traurigerweise würde ich hier hinzufügen: "Arme USA – wir meinen, wir seien Gott nah, aber wir sind weit entfernt von dem, an das wir einst geglaubt haben." Denken Sie nur an unseren eigenen Treueschwur, insbesondere an den Teil über "Freiheit und Gerechtigkeit für alle".

Im Juli warnte Michael Moore, der stets verlässlich die Probleme des Rust Belt in den USA beklagte, dass Trump diese Wahl gewinnen würde. Verloren hat Clinton sie in den vier traditionell demokratischen Bundesstaaten in der Region Great Lakes – Michigan, Ohio, Pennsylvania und Wisconsin. Schon in den Vorwahlen zeichnete sich das ab: Bernie Sanders zeigte, dass Clinton im Rust Belt zu schlagen ist. Die armen Menschen in diesen Staaten waren Demokraten, die Reagan gewählt hatten, weil er versprach, auch sie würden profitieren, wenn es den Reichen besser geht. Das war eine Lüge, und jetzt hatte auch Trump leichtes Spiel mit ihnen.

Denn die arbeitenden und nicht arbeitenden Menschen im Rust Belt waren darauf aus, sich wegen deren Unterstützung für das Freihandelsabkommen NAFTA an den Clintons zu rächen. Michael Moore hat Trump als den "persönlichen Molotow-Cocktail" des Rust Belt bezeichnet. Okay, das ist schön formuliert und weitgehend richtig. Aber die Millionen Demokraten, die nicht für Clinton gestimmt haben, sind damit nicht aus der Verantwortung.

Es wäre zu einfach, mit dem Finger auf die Trump-Wähler zu zeigen. Natürlich sind sie egoistisch, engstirnig und voller Hass; viele von ihnen sind ungebildet, und sie wurden hereingelegt. Früher hatte ich republikanische Freunde, die von sich sagten, sie seien "fiskalpolitisch konservativ, aber sozial liberal". Diese US-Wahl aber bietet keine Hoffnung für die Zukunft von "sozial liberal". Ungefähr 50 Prozent der amerikanischen Wähler haben "sozial liberal" soeben den Rücken zugekehrt. Trotzdem waren es jene Demokraten, die – aus welchem Grund auch immer – nicht für Clinton stimmen wollten, die Trump diesen Wahlsieg verschafft haben. Ganz ähnlich wie sie haben Demokraten, die sich nicht hinter Hubert Humphrey stellen wollten, im Jahr 1968 Nixon zum Sieg verholfen.

So gut waren meine Reden

Um zwei Uhr morgens am 9. November standen im Trump-Hauptquartier Krakeeler in Mantel und Krawatte, auf dem Kopf "Make America Great Again"-Baseballkappen. Lautstark forderten sie, dass Clinton eingesperrt werden solle. Leben die in Venezuela? Ist Trump ihr Hugo Chávez? Ich habe es mir seit dieser Wahl öfters vorgestellt: München und Berlin könnten in den 1930er-Jahren in etwa so ausgesehen haben wie die USA heute.

Ich habe schon das Fiasko mit Bush und Gore – also wie diese Wahl mit der Stimmennachzählung in Florida endete – für verheerend gehalten. Doch im Vergleich zu heute war das nichts. Und ich habe Wahlkampfreden für das Team Mondale-Ferraro geschrieben, das gegen Reagan spektakulär unterlag. So gut also waren meine Reden. Selbstverständlich wurde das Meiste von dem, was ich für Ferraro schrieb, herausgestrichen – "Uh, das kann sie nicht sagen", erklärten mir die Experten in der demokratischen Partei immer wieder. Dabei hatte natürlich einer von ihnen mich vorher gebeten, diese Reden zu schreiben. Ach ja – Alexander Hamilton hatte nur halb recht. Der "demokratische Prozess", also die Art und Weise, wie in den USA Wahlkampf betrieben wird, ist ein nicht weniger "großes Ungeheuer" als das Wahlvolk selbst.

Im vergangenen Mai, als ich ebenfalls auf einer Lesereise in Europa war, sagte ich, dass es die Demokraten selber in der Hand hätten, diese Wahl zu gewinnen oder zu verlieren. Damals ging es noch um die Entscheidung zwischen Clinton und Sanders. Weil ich früher im Bundesstaat Vermont gewohnt habe, hatte ich Sanders schon oft gewählt. Wenn er die Nominierung gewonnen hätte, hätte ich auch wieder für ihn gestimmt. Doch schon im vergangenen Mai machte ich mir Sorgen darüber, wie viele Sanders-Anhänger wohl Clinton wählen würden, wenn er nicht nominiert würde. Nicht genügend, wie wir jetzt wissen.

Nein, ich will Sanders nicht die Schuld geben. Er war immer der, der er ist – hartnäckig treu sich selbst gegenüber. Sanders hat Clinton gewählt, und er hat versucht, auch seine Anhänger dazu zu bringen. Die Schuld gebe ich den liberalen Demokraten, die Clinton ihre Unterstützung versagt haben – den 6,5 Millionen Menschen, die Obama wählten, 2016 aber wegblieben. Nicht nur hat Romney 2012 mehr Stimmen bekommen als jetzt Trump. Auch McCain bekam 2008 mehr Stimmen als er. Und wenn ich die Demonstranten sehe, die in den USA den Wahlsieg von Trump kritisieren, frage ich mich, wie viele von ihnen nicht Clinton gewählt haben.

Ist es beruhigend, zu glauben, dass Trump die meisten wichtigen Entscheidungen nicht persönlich treffen wird? Die Republikaner, mit denen er sich im Weißen Haus umgeben dürfte, sprechen nicht dafür: Kandidaten sind Rudy Giuliani, Sarah Palin und Newt Gingrich, um nur drei mögliche Schrecken zu nennen. Die 6,5 Millionen Demokraten, die Obama gewählt haben, nicht aber Clinton, sollten dringend den nächsten demokratischen Präsidentschaftskandidaten unterstützen. In Demokratien gibt es immer ein "nächstes Mal". Jetzt gerade aber hilft das nicht. Was ist mit jetzt? (John Irving, Album, 19.11.2016)