Die Wiener NMS-Direktorin Erika Tiefenbacher kennt die Situation, dass muslimische Väter nicht mit ihr reden oder ihr nicht die Hand geben wollen. Sie nimmt es locker – und setzt auf Dialog mit den Kindern.

Foto: Heribert Corn
Foto: Der Standard/Corn

STANDARD: An der Neuen Mittelschule in der Schopenhauerstraße 79 in Wien, die Sie leiten, haben fast 100 Prozent der Kinder "Migrationshintergrund" – wie bringen Sie diesen Kindern Deutsch bei?

Tiefenbacher: Es sind 80 bis 100 Prozent je Klasse, höchstens ein oder zwei Kinder in jeder Klasse haben Deutsch als Muttersprache. Wir haben auch Kinder mit null Deutschkenntnissen. Diese sind dann zwei Jahre "außerordentlich", da werden sie nicht benotet und separat in einem Deutschkurs mit elf Stunden pro Woche unterrichtet. Das ist dann eine sehr homogene Gruppe mit maximal 15 Kindern. Bald kristallisiert sich heraus, wer lernt schnell und wer muss erst alphabetisiert werden, weil er noch nie in einer Schule war. Dann machen wir Rochaden in diesen Deutschkursen, weil es wichtig ist, hier keine heterogene Gruppe zu haben – anders als in der Klasse, wo ich es ja gerne hätte, dass gute und weniger gute Schüler durchmischt sind.

STANDARD: Und vor welche Schwierigkeiten stellt Sie dieses babylonische Sprachengewirr?

Tiefenbacher: Es ist selbstverständlich, dass die Kinder in den Pausen in ihrer Muttersprache reden können. Das muss man selber erlebt haben, damit man versteht, dass man den Kindern ihre Herzenssprache nicht verbieten kann. Jeder, der in einem fremden Land auf eine Fremdsprache angewiesen war, die man nicht gut kann, stürzt sich auf jeden, der Deutsch oder Englisch spricht. Das Problem ist, dass wir als Lehrerinnen in diesen 50 Minuten Unterricht die einzigen Bezugspersonen mit Deutsch sind. Die Familie, aber auch Freundinnen und Freunde reden in der Muttersprache. Das ist unser großes Problem, dass wir viele Lernfelder in Deutsch haben müssen und es hoffentlich irgendwann Klick macht oder wir von den Sprachen her so viele Mischgruppen in der Klasse haben, dass dann die gemeinsame Sprache Deutsch ist.

STANDARD: Eine Deutschpflicht in der Pause, wie sie Schwarz-Blau in Oberösterreich verordnet hat, ist ...

Tiefenbacher: ... Schwachsinn, oder besser: offensichtlich Unwissen und fehlende Erfahrungen.

STANDARD: Wie gehen Sie mit den Muttersprachen der Kinder um?

Tiefenbacher: Wir haben an die 20 Muttersprachen und wollen aus der Vielsprachigkeit unserer Kinder, die uns ja von vielen als Nachteil ausgelegt wird, einen Mehrwert machen. Wir fördern die Muttersprachen und damit auch den Bezug zur Kultur, den die Kinder mitbringen, damit sie die Eltern bei den Hausübungen einbeziehen können. Wie ist das in dem Land, aus dem ihr kommt? Unsere Schülerinnen und Schüler dürfen Plakate in der Muttersprache schreiben, müssen es aber auf Deutsch erklären. Dazu haben wir Muttersprachenlehrer für Türkisch, Bosnisch-Kroatisch-Serbisch (BKS) und Romanes.

STANDARD: Bringt Ihnen die Schulautonomie dafür neue Freiheiten?

Tiefenbacher: Unser mehrsprachiger Unterricht ist damit sicher einfacher und transparenter zu machen. Etwa dass es Doppelstunden geben darf. In der ersten Stunde sind drei Lehrer in der Klasse, die zu einem Thema, etwa Ägypten, arbeiten. Ein Lehrer in einer Ecke aus geschichtlicher Perspektive, eine Lehrerin im anderen Eck aus geografischer Sicht, der oder die Dritte mit der politisch-gesellschaftlichen Dimension. Die Kinder sind in drei sprachliche Mischgruppen geteilt und erfahren an jeder Station vom Lehrer Fachwissen. In der zweiten Stunde sind sie dann in homogenen Sprachgruppen und erzählen einander in der Muttersprache, was sie in den drei Stationen gehört haben.

STANDARD: Künftig sollen Direktorinnen und Direktoren selbst ihre Lehrerinnen und Lehrer aussuchen können. Sie leiten die einzige öffentliche Mittelschule im 18. Bezirk, rundherum gibt es für 10- bis 14-Jährige nur Gymnasien und Privatschulen – was, wenn niemand zu Ihnen will?

Tiefenbacher: Zum Glück habe ich das Problem nicht, weil es viele Menschen gibt, die sensibel für dieses Problemfeld in unserer Gesellschaft sind. Es meldeten sich heuer viel mehr Lernpaten als im Vorjahr. Natürlich wurden mir schon Kolleginnen zugeteilt, die Angst hatten und sagten, darauf bin ich nicht vorbereitet und ausgebildet, aber sobald sie eine Zeit hier waren, wissen sie, dass es nicht schlimm ist. Wer unsere Schülerinnen und Schüler erlebt, weiß, die bestehen nicht nur aus Problemen. Es gibt hier auch große Erfolgserlebnisse.

STANDARD: Hielten Sie es für sinnvoll, durch politische Maßnahmen eine bessere Verteilung der Kinder mit nichtdeutscher Muttersprache auf die Schulen zu organisieren?

Tiefenbacher: Selbstverständlich! Würde man die außerordentlichen Kinder auf ganz Wien gerecht aufteilen, das heißt, auch auf Gymnasien, auch auf Privatschulen, damit es Mischklassen gibt, dann hätten wir kein Problem. Auch diese Schulen bekommen die Schulbücher gratis und die Lehrer vom Staat bezahlt. Das wäre eine Solidarität dem Staat gegenüber. Dann wäre in jeder Klasse nicht einmal ein außerordentliches Kind, und es würde wahrscheinlich keinen eigenen Deutschkurs brauchen, weil Kinder ganz, ganz schnell lernen. Also Fördermaßnahmen, Zusatzstunden für diese Kinder, ja, aber nicht elf Stunden, dann gäbe es das Problem der Mehrsprachigkeit oder der Sprachlosigkeit nicht.

STANDARD: Welche Erfahrungen machen Sie mit den unterschiedlichen Kulturen, aus denen die Familien Ihrer Kinder kommen? Kennen Sie die Situation, dass etwa muslimische Väter nicht mit einer Direktorin sprechen wollen?

Tiefenbacher: Ja, aber damit muss man relativ locker umgehen. Ich sage dann: "Es tut mir leid, dass Sie mir nicht die Hand geben und mich nicht anschauen können, das ist für mich ein Hemmnis in unserer Kommunikation. Sie sitzen jetzt da, weil es um Ihr Kind geht, das mir und Ihnen wichtig ist, und ich hoffe, Sie verstehen die Botschaft, auch wenn Sie mich nicht ansehen." Ich habe auch Kinder, die sich für ihre Väter entschuldigen und sagen: "Frau Direktor, das ist nicht böse gemeint, aber er darf Sie nicht anschauen oder Ihnen die Hand geben." Dann sage ich dem Kind: "Das tut mir leid für deinen Vater. Er hat sich für Österreich entschieden, und wir haben da andere Regeln."

STANDARD: Kommt es auch vor, dass muslimische Mädchen nicht zum Schwimmen mitdürfen?

Tiefenbacher: Sie haben gesehen, wie viele Kinder ich habe, die Kopftuchträgerinnen sind. Ja, das kommt vor, allerdings nur wirklich vereinzelt. So wie andere Dinge auch vereinzelt vorkommen, etwa dass jemand die Schule schwänzt.

STANDARD: Wie gehen Sie damit um? Lassen Sie es durchgehen?

Tiefenbacher: Nein, wir sprechen es schon an, nur stoßen wir dann an unsere Grenzen.

STANDARD: Würden Sie sich von der Politik eine Handhabe wünschen?

Tiefenbacher: Natürlich hätten wir es leichter, aber nicht jedes Verbot ist gut und erweckt Verständnis. Ich hatte voriges Jahr erstmals das Problem mit dem Ramadan. Da haben die Eltern den Kindern plötzlich Entschuldigungen für Turnen geschrieben, dass sie nicht mitturnen müssen, weil sie fasten. Da habe ich gesagt: Das geht nicht, aber ich gehe dann zu den Kindern und rede mit ihnen. Es ist uns egal, welche Religion ihr habt, aber Trinken ist im Sommer wichtig. Es ist deine persönliche Sache zu fasten, aber du turnst bitte mit – und selbstverständlich haben sie mitgeturnt. Ich glaube ja, sie sagen es den Eltern nicht, das ist ein Generationsproblem. Die Kinder verstehen es, die Eltern hätten weniger Verständnis dafür.

STANDARD: Kommt es öfter vor, dass die Direktorin persönlich mit den Klassen Themen bespricht?

Tiefenbacher: Bei mir ja. Ich bin nach der Silvesternacht in Köln auch in jede Klasse gegangen, weil es mir wichtig war und es auch im Lehrerzimmer diskutiert wurde. Ich habe zu den Schülerinnen und Schülern gesagt: Ihr seid uns alle willkommen, nur ich bin eine Frau, und wir haben Rechte, die ich mir von niemandem nehmen lasse. Wir dürfen jederzeit überall hingehen, freizügig sein, geschminkt sein, wir tragen keine Kopftücher, wir sind berufstätig, wir sind nicht nur zu Hause. Wenn deine Eltern das anders sehen, ist es okay, aber drängt uns ja nicht auf, dass wir auf das verzichten müssen, was erkämpft wurde. Das sage ich sehr ernst und klar. Unsere 13-jährigen muslimischen Burschen pubertieren ja genauso und wollen ihre Erfahrungen machen, aber alle wollen dann eine Jungfrau als Frau. Ich habe zum Glück einen tollen Schulsozialarbeiter, der sich die Burschen dann hernimmt und sagt: Jetzt hast du zwei Maßstäbe, mit denen du leben willst. Wie kannst du das vereinbaren? Es kommt sicher nicht bei allen an, aber wir hoffen, bei vielen. (Lisa Nimmervoll, 21.11.2016)