Krebsspezialist Heinz Ludwig: "Es kommt auf den Zeitpunkt der Diagnose an."

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STANDARD: Auf der internationalen Hämatologenkonferenz Ash gab es viel Neues zum Multiplen Myelom. Können Sie die neuen Erkenntnisse zusammenfassen?

Ludwig: Die Diagnose ist der Überbegriff für ein ganzes Spektrum von Erkrankungen. Ein gemeinsames Merkmal ist, dass stets die Plasmazellen im Blut betroffen sind. Nicht nur die Symptome sind unterschiedlich, sondern auch der Verlauf der Erkrankung.

STANDARD: Circa 500 Patienten erkranken im Jahr am Multiplem Myelom. Was sind charakteristischen Merkmale?

Ludwig: Monoklonale Plasmazellen, die Myelomzellen genannt werden, sowie Eiweißkörper, die allesamt dieselben physikochemischen Eigenschaften aufweisen. Bei einigen Patienten wird die Erkrankung zufällig im Rahmen einer Kontrolluntersuchung aufgedeckt. Häufig sind auch Knochenveränderungen. Meist führen Kreuzschmerzen, Müdigkeit, Blutarmut und/oder erhöhte Infektanfälligkeit zum Arzt.

STANDARD: Gibt es leichte und schwere Formen?

Ludwig: Der Verlauf der Erkrankung kann sehr unterschiedlich sein. Die Überlebenszeit hängt vom Alter des Patienten zum Diagnosezeitpunkt und von den biologischen Eigenschaften des Tumors ab. Etwa 20 Prozent der Patienten haben eine sehr ungünstige Prognose, während bei den meisten Patienten heute mit einer Überlebenszeit von mehreren Jahren zu rechnen ist. So ist etwa ein Fünftel der Patienten, die bei Diagnosestellung unter 65 Jahren alt waren und transplantiert worden sind, nach 15 Jahren am Leben. Insofern möchte ich den Begriff "unheilbar" auch relativieren, es kommt auf den Zeitpunkt der Diagnose an.

STANDARD: Warum ist der Zeitpunkt der Diagnose entscheidend?

Ludwig: Wir denken, dass den Abwehrzellen des Immunsystems eine beträchtliche Rolle im Krankheitsverlauf zukommt. Ein vergleichsweise junger Organismus ist schlagkräftiger, hat eine bessere Immunabwehr, also bessere Chancen, Tumore in Schach zu halten.

STANDARD: Was ist mit Patienten, die Vorstufen der Erkrankung haben?

Ludwig: Zu den Vorstufen zählen die sogenannte monoklonale Gammopathie unbestimmter Signifikanz (MGUS) sowie das Smoldering Myelom. Betroffene haben keinerlei Beschwerden.

STANDARD: Warum wissen sie dann, dass sie eine Vorstufe haben?

Ludwig: Meist durch Zufall, etwa dann, wenn bei einer Blutuntersuchung ein abnormes Bild in der Auftrennung der Eiweißkörper (Elektropherese) festgestellt wird.

STANDARD: Was bedeutet das für Betroffene?

Ludwig: Sie gehen ab diesem Zeitpunkt mit dem Bewusstsein, eine Veränderung in der Zusammensetzung ihrer Eiweißkörper zu haben, durchs Leben. Das Risiko, ein Myelom zu entwickeln, liegt bei dieser Gruppe bei einem Prozent pro Jahr. MGUS-Patienten wird die regelmäßige Kontrolle der Eiweißparameter in Intervallen von sechs bis zwölf Monaten empfohlen.

STANDARD: Verläuft die Erkrankung in Schüben?

Ludwig: Unterschiedlich. Bei manchen Patienten entwickelt sich aus einem MGUS ein "Smoldering Myelom" und erst danach ein Multiples Melom, bei anderen entwickelt sich das Multiple Myelom relativ rasch. Molekularbiologisch finden viele Veränderungen statt, je weiter fortgeschritten, umso mehr Mutationen sind festzustellen.

STANDARD: Wird das Genom von Patienten sequenziert?

Ludwig: Nein, nicht in der klinischen Routine. Wir nutzen für die Diagnose der genetischen Merkmale die Fluoreszenz-in-situ-Hybridisation (FISH). Mit dieser Methode können wir Hochrisikopatienten erkennen.

STANDARD: Inwiefern?

Ludwig: Wir können nachweisen, ob in einzelnen Myelomzellen Chromosomenbrüche vorliegen, und feststellen, wie sich die Bruchstücke neu arrangieren.

STANDARD: Hängt davon die Behandlung ab?

Ludwig: Zu einem gewissen Teil, weil Patienten mit zytogenetischen Risikofaktoren mit Medikamenten einer bestimmten Arzneimittelklasse behandelt werden sollten.

STANDARD: Wie wird generell therapiert?

Ludwig: Personen im guten Allgemeinzustand werden mit einer Dreierkombination von Proteasom-Inhibitoren, Immunmodulatoren und Kortison behandelt. Mit diesen Therapien kann das Wachstum der Plasmazellen eingedämmt werden. Bis zum 65. Lebensjahr wird derzeit eine Stammzelltransplantation empfohlen.

STANDARD: Wie verläuft das?

Ludwig: Wir entnehmen Patienten Stammzellen. Dann verabreichen wir eine hochdosierte Chemotherapie, die die Myelomzellen weiter in die Knie zwingen soll. Nach der Hochdosistherapie bekommen die Patienten ihre Blutstammzellen wieder zurück. Nach zwei Wochen sollten Patienten wieder nach Hause können. In den USA oder in den Niederlanden wird die Transplantation zum Großteil sogar schon ambulant gemacht. Sie werden täglich kontrolliert und müssen nur bei Komplikationen ins Krankenhaus. Dieser Trend einer zunehmend ambulanten oder tagesklinischen Behandlung wird sich mit Verzögerung auch in Österreich durchsetzen.

STANDARD: Bei vielen kommt die Erkrankung wieder zurück. Was dann?

Ludwig: Leider ja. Aber gerade für diese Gruppe gibt es eine ganze Reihe von neu zugelassener Wirkstoffe, die Optionen in der Behandlung eröffnen.

STANDARD: Einer der Experten auf diesem Gebiet hat auf der Ash in San Diego die Myelomtherapie mit dem Warten auf ein Taxi verglichen. Er hat gesagt: "20 Jahre haben wir auf Therapien gewartet, und es kam nichts, jetzt stehen plötzlich fünf Autos vor uns, und wir wissen gar nicht, in welchen Wagen wir einsteigen sollen." Sehen Sie das auch so?

Ludwig: Es stimmt, letztes Jahr wurden fünf neue Wirkstoffe zugelassen, die wir gerade in diversen Kombinationen einsetzen. Die Fülle an neuen Möglichkeiten macht es uns derzeit nicht gerade leicht, unterschiedliche Kombinationstherapien miteinander zu vergleichen. Es laufen weltweit zirka 200 Studien, die in den nächsten Jahren zeigen werden, welche Kombinationen sich bei welchen Formen von Multiplen Myelomen als besonders wirkungsvoll erweisen.

STANDARD: Wie viele Studien laufen in Österreich?

Ludwig: Circa 20 mit verschiedenen Präparaten.

STANDARD: Wer kann teilnehmen?

Ludwig: Sowohl Patienten, die eine Erstbehandlung benötigen, als auch jene nach einem Rückfall. Für Patienten, die schon alles gehabt haben, gibt es die Möglichkeit, an Studien mit gänzlich neuen Medikament teilzunehmen. Im Vordergrund steht dabei die Frage, ob mit einem neuen Medikament bei umfangreich vorbehandelten Patienten noch ein Therapieerfolg erreicht werden kann und ob die neue Therapie(kombination) besser als die bisherige Standardtherapie ist.

STANDARD: Inwiefern sind die neuen Medikamente anders?

Ludwig: Entweder in ihrer Wirkweise oder im Wirkprinzip. Letzeres insofern, als sie eine andere Wirkintensität und/oder Verträglichkeit haben. Zu den neuen Medikament zählen zwei Proteasom-Inhibitoren, wobei einer den Vorteil einer oralen Einnahme bietet. Zudem gibt es zwei neue Antikörper und eine für die Behandlung des Myeloms neue Substanzgruppe der sogenannten Histondeacetylase-Inhibitoren. Als Vertreter der Evidenz basierten Medizin kann ich nur sagen, dass wir die Ergebnisse der vielen laufenden Studien aber erst abwarten müssen. (Karin Pollack, 13.12.2016)

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