Florentine Fritzen
Gemüseheilige

Eine Geschichte des veganen Lebens
Franz-Steiner-Verlag 2016
183 Seiten, 22,60 Euro

Foto: deblik/Franz Steiner Verlag

Jede Bewegung braucht ihre geschichtliche Aufarbeitung. Dass der Verzicht auf Fleisch weit mehr als nur die Entscheidung "Was essen?" ist, wird einem schon auf der ersten Seite dieses kleinen Bandes klar. "Gemüseheilige" ist der Titel eines von der deutschen "FAZ"-Journalistin Florentine Fritzen verfassten Buches. Die Autorin, mit hoher Wahrscheinlichkeit selbst Veganerin, hat sich zum Ziel gesetzt, deutschen Vegetariern ihren historischen Unterbau aufzubereiten.

Dazu holt Fritzen weit aus und beginnt ihre Zeitreise Mitte des 19. Jahrhunderts mit jenen Protagonisten, die den Verzicht auf Fleisch zu einer Lebenseinstellung gemacht haben. Vegetarier-Vereinigungen, lernt man, gab es auch damals schon, Berlin und Leipzig waren Hochburgen, und der Verzicht auf Fleisch hatte seit jeher zwei Aspekte: Zum einen die Überzeugung, dass Pflanzen die gesündere Art sind, sich zu ernähren, zum anderen aber auch ein Leben in Einklang mit der Natur – zu dem das Ausnutzen von Tieren in keinster Weise passte.

Rein historisch haben sich auch die Begrifflichkeiten geändert: Lange Zeit bezeichneten sich jene, die auf Fleisch verzichteten, als Vegetarier, ganz unabhängig davon, ob sie auch tierische Produkte wie Eier oder Milch auch meideten, Rohköstler hießen diejenigen, die sich ausschließlich von Gemüse und Früchten ernährten. Die Bezeichnung "vegan" kam erst in den 1960er-Jahren auf.

Ernährung als Lebenseinstellung

Fritzen präsentiert die ersten Vertreter dieser Lebenseinstellung – wie etwa Reinhold Riedel – als Helden. An seinem Beispiel wird klar, dass sich diese Haltung zum Leben in einer Art Parallelgesellschaft entwickelte. Denn sich vegetarisch zu ernähren, ist in der westlichen Welt seit jeher eine Abweichung von gesellschaftlichen Konventionen. Fritzen pflügt dabei durch die Jahrzehnte. Während des Ersten Weltkrieges war vegetarisches Leben notgedrungene Realität, in den 1930er-Jahren sorgte eine ganze Reihe von Gesundheitsaposteln im Rahmen der Reformbewegung für Furore.

Dazu gehören der Schweizer Arzt und Ernährungsreformer Max Bircher-Benner (verewigt im Bircher-Müsli), aber auch John Harvey Kellogg (Erfinder der Cornflakes), denen es primär um gesunde Ernährung ging. Immer wieder schwingen in der Ernährungsdiskussion auch religiöse Facetten mit, etwa wenn es um Fastengewohnheiten (Stichwort innere Säuberung) geht.

Brisant sind die Seiten über Vegetarismus im Dritten Reich und die damit verbundenen Mythen. Den Ernährungsgewohnheiten von Adolf Hitler beziehungsweise der deutschen Gesellschaft für Lebensreform und ihren Zielen sind ausführliche Kapitel gewidmet. Sie tragen dazu bei, Dinge ins rechte Licht zu rücken.

Im kollektiven Gedächtnis

Irgendwann verlässt die Buchautorin aber auch den deutschen Sprachraum, dann nämlich, wenn sie die Ursprünge des Begriffs Veganismus offenlegt und den Engländer Donald Watson vorstellt. Amüsant: Auch Sanivor, Benevor oder Beaumangeur waren als Bezeichnung für sich fleisch- und tierproduktlos Ernährende in Diskussion, bevor man sich auf den Begriff Veganismus einigte. Den Siegeszug trat die Bewegung in den 1960er-Jahren an. Man lernt, welche Rolle die Pflanzenmargarine Rama dabei spielte, wann Sojaprodukte Einzug in die deutschen Reformhäuser hielten und warum Milch als Nahrungsmittel ("An der weißen Milch klebt rotes Blut") infrage gestellt wurde.

Viele Elemente der Diskussion finden sich im 21. Jahrhundert wieder, etwa in Debatten über "Clean Eating". Veganismus ist im 21. Jahrhundert angekommen, in den sozialen Medien, in Form von hunderten Kochbüchern, aber auch in Form von Aktionen der internationalen Tierschutzorganisation Peta, deren Anhängerzahl angesichts von industrieller Tierzucht stetig steigt. Nicht nur Fleisch, auch Honig, Leder und Wolle laufen dem Veganismus entgegen.

Von Nische zu Mainstream

Wie sehr vegane Ernährung heute in den Mittelpunkt gerückt ist, belegt Fritzen am Ende des Buches auch mit Zahlen: Sie hat Artikel über Veganismus in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" gezählt: Zwischen 1949 und 1989 erschienen insgesamt zehn Artikel zum Thema, seit 2013 bereits 621. Nicht nur das Interesse an dieser Ernährungs- und Lebensform steigt, auch die Zahl der vegan lebenden Menschen.

Laut dem Statistik-Portal Stasia gab es im Jahr 2015 in Deutschland 5,36 Millionen Personen, die sich selbst als Vegetarier bezeichnen würden oder als jemand, der weitgehend auf Fleisch verzichtet. Der Vegetarierbund Deutschland (Vebu) geht von rund 7,8 Millionen Vegetariern aus. Die österreichischen Zahlen laut Ifes-Studie: 760.000 Menschen verzichten hierzulande auf Fleisch. Insofern erzählt Florentine Fritzen die Geschichte eines Siegeszugs. (Karin Pollack, 5.1.2017)