Unser Gehirn ist von Blutgefäßen durchzogen: Irgendwo kann es zu einer Verstopfung kommen – sie kann medikamentös oder durch eine minimalinvasive Operation behandelt werden.

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Ein Schlaganfall ist die Folge einer plötzlichen Durchblutungsstörung des Gehirns: Die Nervenzellen im Hirngewebe erhalten zu wenig Sauerstoff und sterben ab. Da Nervenzellen aber nicht nachwachsen, führt ein unbehandelter Schlaganfall häufig zu Behinderungen. Der größte Teil der Schlaganfälle entsteht durch den Verschluss eines Blutgefäßes durch ein Gerinnsel. Dabei gilt: Je größer das verstopfte Blutgefäß ist, desto größer der betroffene Gehirnbereich und desto schwerer der Schlaganfall.

Für genau jene Patienten gibt es nun Hilfe: Seit Februar dieses Jahres ist die mechanische Thrombektomie in den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie verankert, die auch für Österreich gelten.

Bei der Thrombektomie führt ein Neuroradiologe einen haarfeinen Katheter über die Leistenschlagader ins Gehirn und zieht das Blutgerinnsel mithilfe eines winzigen Drahtkorbs heraus. Das Blut fließt dann wieder ungehindert und versorgt das Hirngewebe mit Sauerstoff. "Das ist Fusselarbeit", beschreibt Peter Ringleb, Leiter der Sektion vaskuläre Neurologie der Universitätsklinik Heidelberg, das neue Verfahren, "aber das Ergebnis ist oft eindrucksvoll: Es kommt vor, dass ein Patient noch während der Behandlung den gelähmten Arm plötzlich wieder heben kann oder wieder anfängt zusammenhängend zu sprechen."

Stroke Unit als Erfolgsmodell

Kein Wunder, dass manche Neurologen die Methode als revolutionär bezeichnen. In Österreich erleiden rund 25.000 Menschen jährlich einen Schlaganfall, etwa 1.200 Personen würden von einer Thrombektomie profitieren.

Die Behandlung von Schlaganfällen hat in den letzten 30 Jahren dramatische Fortschritte gemacht. In den 1980er-Jahren noch legte man betroffene Patienten in ein Bett, gab Aspirin und wartete ab. Heute haben sich Stroke Units als erste Säule der Schlaganfalltherapie weltweit etabliert: Dort arbeiten Ärzte, Pflegepersonal und Physiotherapeuten Hand in Hand und kümmern sich um Akuttherapie und Rehabilitation.

Zur zweiten Säule der Schlaganfalltherapie wurde die systemische Thrombolyse. Der Wirkstoff rt-PA, ein Enzym, das Blutgerinnsel auflöst, wurde 2002 in der EU zugelassen. "Das war damals eine echte Sensation, denn wir hatten für einen großen Teil der Schlaganfallpatienten erstmals ein wirksames Medikament zur Verfügung", sagt Cornelius Weiller, Direktor der Klinik für Neurologie und Neurophysiologie in Freiburg. Bis heute gilt die Lysetherapie als Standardbehandlung bei Patienten mit einer Durchblutungsstörung, immerhin 80 Prozent der Fälle. Die übrigen 20 Prozent gehen auf eine Gehirnblutung zurück und müssen auf andere Weise behandelt werden.

Grenzen der medikamentösen Behandlung

Doch die Thrombolyse hat Nachteile: Die Behandlung wirkt nur innerhalb der ersten drei bis viereinhalb Stunden nach dem Hirninfarkt. Und bei Patienten mit einem großen Gefäßverschluss hilft die Lyse auch in diesem Zeitfenster nicht immer: "Gerinnsel ab einer Ausdehnung von neun Millimetern sind nicht mehr aufzulösen. Dafür ist die Methode nicht mächtig genug", sagt Wilfried Lang, Leiter der Abteilung für Neurologie, neurologische Rehabilitation und Akutgeriatrie am Krankenhaus Barmherzige Brüder in Wien.

Fünf Studien belegten 2015 die Wirksamkeit der Thrombektomie, nunmehr die dritte Säule der Schlaganfalltherapie. An dem Verfahren forscht man schon seit 30 Jahren, die aktuell verwendete Methode wurde aber erst vor einigen Jahren aus der Not heraus entdeckt: Ein Neuroradiologe in Stuttgart behandelte eine Patientin mit einem großen Gefäßverschluss. Nachdem keine Therapie angeschlagen hatte, führte er einen Stent, ein Drahtgeflecht, das normalerweise zum Abstützen von Gefäßwänden genutzt wird, per Katheter ins Gehirn und zog das Gerinnsel heraus. Nach und nach setzte sich die Methode durch, ein Alterslimit existiert nicht, das heißt auch ältere Patienten profitieren.

Der Erfolg der neuen Therapie wirft aber auch Fragen auf: Wie kann man die Methode flächendeckend einführen, sodass möglichst viele Patienten davon profitieren? Das Verfahren lässt sich nur an hochspezialisierten Zentren durchführen. Erschwerend kommt hinzu, dass auch die Thrombektomie einem Zeitlimit unterliegt.

Frage der Zeit

"Die Auswahl der Patienten ist eine große Herausforderung: Der richtige Patient muss so rasch wie möglich an den richtigen Ort", so Lang. Patienten mit leichteren Schlaganfällen ohne größeren Gefäßverschluss bleiben in Stoke Units und erhalten dort eine Thrombolyse. Patienten mit schweren Symptomen wie Lähmungen und Sprachstörungen müssen für eine Thrombektomie in ein spezialisiertes Zentrum überführt werden – das kostet Zeit, auch mit dem Helikopter. Immerhin scheint das Zeitfenster für die Thrombektomie etwas größer zu sein. Die Leitlinien geben eine Behandlung in sechs Stunden vor, aber es gibt Hinweise, dass Patienten auch noch nach längerer Zeit von dem Eingriff profitieren. "Generell gilt aber: Je früher der Eingriff, umso besser", so Lang.

Weswegen die Logistik noch verbessert werden muss: So soll in Zukunft der Rettungsdienst nicht nur unterscheiden können, ob es sich um einen Schlaganfall handelt oder nicht, sondern auch den Schweregrad einstufen können, die Spezialzentren müssen eine Rund-um-die-Uhr-Versorgung gewährleisten und die kleineren Krankenhäuser an die Zentren angebunden werden.

Trotz Stroke Units, Medikamenten und technischen Möglichkeiten wird die Behandlung von Schlaganfällen auch in Zukunft eine Herausforderung bleiben: "Nur die Hälfte der Patienten kommt rechtzeitig ins Krankenhaus", sagt Ringleb. Schlaganfälle treffen nicht nur ältere Menschen, diese aber vermehrt. Die ältere Generation ist aber häufig verunsichert und ein Stück weit auch zu bescheiden. Viele warten erst einmal ab, ob die Symptome nicht von alleine wieder verschwinden. "Diejenigen, die es nachts trifft, warten gerne bis zum nächsten Morgen, diejenigen, die es am Samstag erwischt auch mal bis Montag", sagt Ringleb. Doch bei einem Schlaganfall zählt jede Minute: Ein verstopftes Gefäß bedeutet den Tod unzähliger Nervenzellen und damit bleibender Schäden.

Weswegen alle Neurologen bekräftigen: Bei plötzlich einsetzenden Symptomen wie Sehstörungen, Lähmungserscheinungen oder Sprachstörungen sollte man sofort den Rettungsdienst rufen. Auch das neue Verfahren ändert also nichts am Leitsatz: time is brain, zu Deutsch: Zeit ist Hirn. (Juliette Irmer, 23.12.2016)