Michaela Fried und Ahmed Abu Thawina, mit dem sie im Gazastreifen zusammenarbeitet, vor einer mit Spenden unterstützten Schule.

Foto: privat

Wien – Man merkt sofort, es ist Michaela Fried eine Herzensangelegenheit, worüber sie die nächste Stunde reden wird, so sehr sprudelt es aus ihr heraus. Sie schildert düstere Episoden aus dem Alltag im Gazastreifen, den sie bereits drei Mal bereist hat. Jetzt sitzt sie, kurzes, leicht verwuscheltes dunkles Haar, schwarz gerahmte Brille, etwa 2400 Kilometer nordwestlich des Palästinensergebietes in einem Wiener Café.

Wo soll man überhaupt anfangen? Die 53-jährige Niederösterreicherin weiß es selbst nicht so genau. Vielleicht bei den Suiziden, die in Gaza immer mehr zunehmen? Der Gewalt, die sich dort in jeden Bereich des täglichen Lebens mischt? Oder den Gefahren, denen sie sich dort aussetzt, wenn ein Bekannter angelaufen kommt, sie vor Schießereien warnt und ihr zuruft: "Du musst gehen! Jetzt!"

Vielleicht wäre ein guter Start der Ursprung ihrer Motivation. Medizin, sagt Fried, habe sie studiert, um ein Minderwertigkeitsgefühl zu kompensieren. "Als Kind hatte ich eine minimale zerebrale Dysfunktion, war also ziemlich tollpatschig. Deshalb wollte ich Dinge besonders gut machen."

Nie mehr wegschauen

Schließlich wurde sie Kinderärztin und kam mit Kindesmissbrauch in Kontakt. "Da habe ich gelernt, hinzuschauen, wo andere wegschauen", begründet sie den nächsten Schritt, sich für Kinder- und Jugendpsychiatrie zu entscheiden. Nie mehr wegschauen war nun ihr Motto – und sie engagierte sich in einem Lager in Mazedonien für kosovarische Flüchtlinge.

Es folgten weitere Auslandsaufenthalte, bis ihr 2014 im Südsudan Kollegen von der katastrophalen Lage im Gazastreifen berichteten. Sofort zeigte sie Interesse, dort zu arbeiten, doch als Privatperson, so Fried, "ist es unmöglich, hineinzukommen". Viele Organisationen und Personen schrieb sie an, aber erst die Weltgesundheitsorganisation (WHO) besorgte ihr ein Visum.

Im Sommer 2015 war es das erste Mal so weit, und den Menschen wollte sie mit einem neuen Therapieansatz helfen. "Neue Autorität" heißt das Konzept, das vom israelischen Uniprofessor Haim Omer entwickelt wurde. "Die ursprüngliche Form der Autorität war hierarchisch, basierte auf Distanz, Fehler wurden sofort bestraft", sagt Omer zum STANDARD. Dann, so der Psychologe, gab es die Versuche, ganz auf Autorität zu verzichten und Kinder in einer offenen Umgebung aufwachsen zu lassen. "Diese Kinder verfügten über ein schlechteres Selbstbewusstsein, weil sie nicht lernten, Schwierigkeiten zu überwinden."

Keine Machtkämpfe mehr

Das neue Konzept, um es grob zu skizzieren, setzt auf Verbundenheit, Beziehung und Präsenz der Autoritätsperson statt auf Kontrolle und Unterwerfung. Vor allem geht es um Wertschätzung gegenüber dem anderen, anstatt sich auf Machtkämpfe einzulassen. Auch geht es um gewaltlosen Widerstand und darum, Konflikte gewaltfrei zu lösen. "Die 'Neue Autorität' fragt nicht, wer Schuld hat, sondern wie wir es besser machen können", sagt Fried.

Klingt banal, doch das Konzept kommt bereits in mehreren europäischen Ländern durch Psychiater, Psychologen oder Lehrer zur Anwendung. Fried gebrauchte es im Gazastreifen, wo sie im Herbst 2016 zum dritten Mal hinreiste. "Die Leute sind wegen der prekären Lage von Gewalt umgeben, die Väter etwa haben nichts zu tun, keine Hoffnung, also schlagen sie Frau und Kinder." Fried ging in die Schulen, vermittelte Lehrern und Eltern, dass es auch ohne Gewalt geht. "Wenn sie sagen, die Israelis wenden auch Gewalt an, sage ich, das gebe keinem das Recht, das Gleiche zu machen."

"Ich war schmähstad"

Fried arbeitete daran, die Gewalt aus den Köpfen der Menschen zu vertreiben. "Eine Frau erzählte mir, dass ihr Haus in die Luft gesprengt wurde und ihr Mann dabei starb. Die Tochter kam in den Trümmern zu ihr, sie nahm sie in den Arm und sie weinten. Was soll ich zu so einer Frau sagen? Ich war schmähstad", erzählt Fried. Schließlich teilte sie der Frau mit, sie habe dem Kind den besten Ort gegeben, an dem es sein kann: in den Armen ihrer Mutter. "Es geht darum, zu reframen, der Geschichte eine positive Bedeutung zu geben."

Zuletzt kamen weitere Widrigkeiten hinzu. Vermehrt stürzten sich junge Menschen von Gebäuden oder zündeten sich selbst an, weil sie keine Zukunft sahen. Schwierig sei es auch, mit jenen zu reden, die Suizidversuche hinter sich haben, so Fried, denn "das ist dort ein völliges Tabu".

Im März plant Fried die nächste Reise in den Gazastreifen. Sie, die bislang alles aus eigener Tasche bezahlt hat, will bis dahin 200.000 Euro an Spendengeldern sammeln. "Damit kann ich zehn Personen dort ausbilden, die wiederum zehn weitere ausbilden. Dann können wir wirklich etwas weiterbringen." Über offizielle Wege, sagt die 53-Jährige, gebe es keine Unterstützung. Drei österreichische Psychologen habe sie dafür gewinnen können, mitzureisen. Allerdings gilt es für sie ein Visum zu besorgen – und das ist für Nichtärzte noch schwieriger. (Kim Son Hoang, 11.1.2017)