Wien – Bei all den Debatten um eine Reform des Bildungssystems komme ein Thema viel zu kurz: die ersten Jahre eines Kindes. Das sagte der Ökonom und Nobelpreisträger James Heckman im STANDARD-Interview. Wer Kinder mit weniger gut gebildeten Eltern fördere, könne ihre Chancen im späteren Leben massiv erhöhen. Es sei auch keine Frage des Geldes. Für einen Euro, den man ausgebe, bekomme man später deutlich mehr zurück. Heckman war auf Einladung der Wirtschaftsuniversität in Wien zu Gast.

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STANDARD: Sie haben vor zehn Jahren geschrieben, Familien seien die größte Quelle für Ungleichheiten in unseren Gesellschaften. Warum?

Heckman: Die Rolle der Frau ändert sich. Sie ist im Schnitt heute viel besser gebildet, geht arbeiten, bekommt später Kinder. Wer mit gut gebildeten Eltern aufwächst, tut das meist in stabilen Verhältnissen und unter qualitativ hochwertiger Kinderbetreuung. Wenn die Mutter schlechter gebildet ist, ist sie oft Alleinerzieherin. Das nimmt stark zu und ist allein finanziell schon schwierig. Gleichzeitig fehlt oft die Zeit, sich mit den Kindern zu beschäftigen, sie zu entwickeln. Das ist ein Trend, der zu mehr Ungleichheit und weniger Aufstiegschancen führt.

In welchem Kinderwagen man landet, kann viel entscheiden.
Foto: apa / kästle

STANDARD: Ihre Forschung zeigt, dass Menschen ihr Leben lang massiv benachteiligt sind, wenn sich die Eltern ihnen nicht ausreichend gewidmet, mit ihnen gespielt, gemalt und gelesen haben.

Heckman: Das versteht man intuitiv. Heute haben wir aber bessere Beweise dafür – von Neurowissenschaftern, von Psychologen, dazu Langfriststudien von Ökonomen. Eine auf Neuseeland bezogene Arbeit zeigte, dass 20 Prozent der Bevölkerung 80 Prozent der Probleme verursachen, also etwa Kriminalität, hohe Gesundheitskosten, wenig Bildung, Drogenmissbrauch. Im Alter von drei bis fünf Jahren kann man relativ gut vorhersagen, wer davon betroffen sein wird.

STANDARD: Sie zeigten aber auch, dass sich gegensteuern lässt.

Heckman: Man kann versuchen, den Kindern aus schwierigen Verhältnissen die Vorteile zu verschaffen, die eine Mittelschichtsfamilie genießt. Das hatte in unserer Studie enorme Effekte. Es geht nicht darum, die Eltern zu ersetzen, es geht darum, zu helfen. Das kann die Bindung zwischen Eltern und Kind deutlich stärken.

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Heckman hat 2000 den Nobelpreis für Ökonomie gewonnen.
Foto: epa / maury

STANDARD: Was wurde gemacht?

Heckman: Was genau getan werden muss, wird noch heiß diskutiert. In allen Studien zeigt sich aber, dass eine stärkere Bindung zwischen Eltern und Kindern essenziell ist. Das ist der Schlüssel. Es gibt Programme, bei denen Babys ab der achten Woche bis zum fünften Geburtstag acht Stunden am Tag betreut werden. Aus einer Studie in Jamaika wissen wir aber auch, dass es sehr geholfen hat, Müttern einfach zu erklären, wie sie mit den Kindern interagieren können, etwa mithilfe von Malbüchern, oder die Kleinen beschreiben zu lassen, was sie sehen. Das hatte große Effekte.

STANDARD: Ist es zu spät, wenn die Kinder in die Schule kommen?

Heckman: Seien wir damit bitte vorsichtig. Es ist nie zu spät. Man kann nur deutlich mehr erreichen, wenn man früh interveniert. Es gibt aber kein Alter, ab dem man sich nicht mehr um Probleme kümmern sollte.

Wer die Chancen von Kindern im Leben erhöhen will, muss ihre Bindung zu den Eltern verbessern, sagt Heckman.
Foto: Getty Images/iStockphoto

STANDARD: Es wird zumindest viel schwieriger.

Heckman: Ein großer Teil der Diskussion zum Thema wurde mit dem Fokus auf den IQ, die Leistung oder die Pisa-Tests ruiniert. Der IQ ist wichtig, um die Schule abschließen zu können. Wer mit zehn Jahren zu den Schülern mit hohem IQ gehört, bleibt das wahrscheinlich ein Leben lang und umgekehrt. Sonst sind aber soziale und emotionale Fähigkeiten wichtiger. Und die sind sehr wohl auch später noch formbar. Der IQ hat etwa nur einen Einfluss von drei, vier Prozent auf das Einkommen.

STANDARD: Kognitive Fähigkeiten sind trotzdem von Vorteil. Wie viel lässt sich durch gute Betreuung und Hilfe für Eltern erreichen?

Heckman: Das haben wir vor kurzem erforscht. Wenn man ab der achten Woche bei Kindern interveniert, die beim IQ etwas unter dem Schnitt liegen, kann man diesen um fünf, sechs Punkte erhöhen. Das klingt beim durchschnittlichen IQ von 100 nach wenig, ist aber substanziell, vor allem für die Schule.

Heckman vor 17 Jahren, als er den Nobelpreis gewann.
Foto: afp

STANDARD: In kaum einem reichen Land sind so wenige Kinder in Frühkindbetreuung wie in Österreich. Ist das ein Problem?

Heckman: Wenn die Großmutter auf das Kind schaut, ist das nicht schlecht. Es geht nicht um den Anteil der Kinder in Betreuung, sondern um die Qualität des Umfelds, in dem die Kinder aufwachsen. Schlechte Kinderbetreuung kann sogar sehr schädlich sein, vor allem für Buben. Mädchen halten da mehr aus. In den USA gibt es viele schlecht gebildete Mütter, die Alleinerzieherinnen sind, arbeiten gehen und die Kinder in schlechte Einrichtungen geben. Die guten sind teuer, sie kosten an die 10.000 Dollar im Jahr. Wenn man die Kinder aber in eine gute Einrichtung schickt, kann es sogar ein Vorteil für sie sein, wenn die Mutter arbeiten geht.

STANDARD: Trotzdem bleibt sie zentral.

Heckman: Ja. Plato hatte die Idee, alle Kinder Athens in Waisenhäuser zu stecken, damit alle die gleichen Chancen haben. Das ist aber freilich die falsche Lösung. Die tiefe Liebe der Eltern kann man durch nichts ersetzen. Man kann ihnen nur helfen, sie zu ergänzen.

STANDARD: Sind gleiche Chancen für alle eine Illusion?

Heckman: Sogar in Dänemark, in einem der großzügigsten Wohlfahrtsstaaten der Welt mit riesigem Angebot an Einrichtungen für sehr junge Kinder, gibt es große Unterschiede je nach Bildung der Eltern. Gleiche Chancen werden nie alle haben. Man kann sich dem Ziel aber nähern und so einen Unterschied machen. (Andreas Sator, 17.1.2017)