Schöne Aussichten: Zahnärzte, die ihre Bohrer nicht mehr brauchen, weil Karies erst gar nicht entsteht.

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"Karies entsteht durch das Zusammenspiel der vier Faktoren Wirt, Bakterien, Nahrung und Zeit", sagt Florian Wegehaupt vom Zentrum für Zahnmedizin der Universität Zürich. Das bedeutet: Bevor ein Loch im Zahn entsteht, muss viel passieren. Der Wirt muss ein Faible für Schokolade, Limo und Co haben und zusätzlich auch die Zahnpflege vernachlässigen.

Auf diese Weise züchtet er sich einen dichten Bakterienrasen heran, der beim Verdauen des Zuckers Säure bildet. Tut der Wirt das lange genug, greift die Säure die Zahnoberfläche an: Der Zahnschmelz, die härteste Schicht des Zahnes, demineralisiert. Nach und nach wird die Oberfläche weich und porös und bricht schließlich ein. Doch so weit muss es nicht kommen, denn Zahnfäule lässt sich im Anfangsstadium gut stoppen.

Beginnende Karies erkennt der Zahnarzt oft an Zahnverfärbungen. Ist die Zahnoberfläche noch nicht beschädigt, hat er heute die Wahl: Er kann den Patienten zu gründlicher Zahnpflege auffordern, bohren oder "infiltrieren". Dazu ätzt er die oberste Schicht des Zahnes mit einem Säure-Gel an, um sie durchlässig zu machen. Anschließend träufelt er darauf einen dünnflüssigen Kunststoff, den die kariöse Stelle aufsaugt – ähnlich wie ein Würfelzucker dies mit Tee oder Kaffee macht. Der Kunststoff härtet aus und verhindert ein weiteres Voranschreiten der Karies.

Infiltrieren statt Bohren

Die Kariesinfiltration ist schonender als das Bohren, weil Zahnsubstanz erhalten wird, und für den Patienten schmerzfrei und geräuschlos. Und die beginnende Karies ist – unabhängig vom Verhalten des Patienten – gestoppt. "Selbst wenn keine optimale Mundhygiene vorliegt, schreitet die Karies am behandelten Ort meist nicht fort", sagt Nadine Schlüter vom Universitätsklinikum Freiburg. Auch der Langzeiteffekt sei gut. 90 Prozent der Infiltrationen sind stabil, ein ähnlicher Wert gilt für Füllungen.

Die Kariesinfiltration zählt zu den mikroinvasiven Methoden, da die Oberfläche mit Säure behandelt wird. "Generell sollte Karies immer nur dann mikroinvasiv behandelt werden, wenn ein Voranschreiten befürchtet wird", sagt Hendrik Meyer-Lückel von der Uniklinik RWTH Aachen und einer der Entwickler der Methode, die unter dem Namen Icon® vermarktet wird. Das ist oftmals bei Karies in Zahnzwischenräumen der Fall, weil man dort schlecht putzen kann.

Aber auch nach einer kieferorthopädischen Behandlung kommt die Methode infFrage: "Bei der Abnahme von Brackets und Bändern entdeckt man häufig sogenannte 'white spots' – aktive beginnende Karies –, die sich mit dem Verfahren erfolgreich behandeln lassen", sagt Andreas Moritz von der Universitätszahnklinik in Wien.

Wirknachweis erbracht

Fünf klinische Studien haben die Wirksamkeit bewiesen. Die Kariesinfiltration musste sich dabei mit der erfolgreichsten non-invasiven Methode – der Fluoridierung – messen. Dabei werden die Zähne mit einem Fluoridlack bepinselt, was die Oberfläche widerstandsfähiger macht gegen Säure und bei beginnender Karies zuverlässig funktioniert – wenn der Patient die Zahnpflege ernst nimmt. "Die Kariesinfiltration kann zwar nur selten angewendet werden, weil Karies meist diagnostiziert wird, wenn der Zahnschmelz schon zerstört ist. Dennoch kommt die Methode vermehrt zum Einsatz, da sie gerade bei Hochrisikopatienten erfolgversprechender ist als die alleinige Fluoridierung", sagt Moritz.

Wie groß das Interesse der Zahnärzte ist, entscheidet oftmals auch das Abrechnungssystem: "Geld gibt es für das Bohren", bringt es Meyer-Lückel auf den Punkt. Auch in Österreich muss der Patient die Kosten der Kariesinfiltration selbst tragen, weil sie zur Vorsorge zählt.

Einen Nachteil sieht Wegehaupt in der Tatsache, dass man auch auf einem Röntgenbild nicht erkennt, ob ein Zahn infiltriert wurde oder nicht. Wechselt ein Patient den Zahnarzt, wird unter Umständen doch noch gebohrt. Ein sorgfältig geführter Zahnpass sei hier hilfreich.

In der Pipeline

Neben der Kariesinfiltration existieren noch weitere schonende Methoden: Bei der sogenannten Hall-Therapie stülpt der Zahnarzt eine Stahlkrone über den befallenen Zahn und hungert die Bakterien einfach aus. Da dies eher unschön aussieht, kommt die Methode in der Regel nur bei Kindern mit kariösen Milchzähnen zum Einsatz.

Das Curodont-Verfahren kommt ebenfalls nur bei beginnender Karies infrage und fördert die Remineralisierung. Der Zahnarzt trägt dazu ein spezielles Eiweißmolekül auf die geschädigte Stelle auf. Dieses dringt in die Karies ein und baut dort ein Stützgerüst auf, in das sich Kalzium- und Phosphat-Ionen aus dem Speichel einlagern. Das Schweizer Unternehmen wirbt mit einer natürlichen, non-invasiven Methode, doch die Studienlage ist dünn: "Wir haben Versuche in vitro, also im Reagenzglas, durchgeführt, die positiv waren. Das lässt sich aber nicht eins zu eins auf das wirkliche Leben übertragen", so Wegehaupt, und auch Schlüter sagt: "Unabhängige klinische Studien existieren noch nicht, und die Langzeitwirkung ist unklar."

Ökosystem im Mund

Auch an der Mundflora, also der Bakteriengemeinschaft, die in der Mundhöhle lebt, wird geforscht. Die Idee dahinter nennt sich "Ökologische Plaques-Hypothese": Je höher die Zuckerzufuhr, desto besser der Lebensraum für säuretolerante, kariesverursachende Bakterien, deren Zahl dann zunimmt. Durch die Verwendung von Xylit, einem Zuckeraustauschstoff, den Bakterien nicht verwerten können, oder anderen Naturstoffen wie Grüntee versucht man die ungünstige Bakterienverschiebung – und damit Karies – zu verhindern.

Das kann man allerdings auch leichter haben: indem man den permanent nachwachsenden Bakterienrasen täglich von den Zähnen schrubbt. Wie gut das funktioniert, zeigen verschiedene Studien im deutschsprachigen Raum: Obwohl der Zuckerkonsum sich in den vergangenen 50 Jahren mehr als verdreifacht hat, sank das Kariesvorkommen – dank intensiver Aufklärung – im ungefähr gleichen Zeitraum um bis zu 95 Prozent. Die Ausrede "Ich habe schlechte Gene", so Wegehaupt, sei also Quatsch. (Juliette Irmer, 22.1.2017)