Ehrendoktor Erdogan: Der türkische Staatschef hat sich mit einem seiner Dekrete das Recht gegeben, selbst die Rektoren für die Universitäten in der Türkei auszuwählen.

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Ankara/Athen – Es war ein verzweifelt anmutender Versuch: Erol Önen setzte sich Ende vergangener Woche mit Frau und Kindern ins Auto und fuhr von Istanbul nach Edirne an die Grenze. Der Assistenzprofessor für Elektrotechnik von der Technischen Universität Istanbul (ITÜ) wollte irgendwie über die Maritza kommen, den Grenzfluss nach Bulgarien und Griechenland. Doch die Familie fiel der türkischen Polizei leicht in die Hände. Gegen Önen lag ein Haftbefehl vor. Seinen Job an der Universität hatte der Elektrotechniker bereits bei einer der Massenentlassungen der vergangenen Monate verloren.

Bisher knapp 7.000 "Putschisten" und "Terroristen" haben die konservativ-islamische Führung der Türkei und ihre Justiz an den Universitäten des Landes ausgemacht. Angebliche Mitglieder der Bewegung des Predigers Fethullah Gülen – lange Jahre ein Verbündeter des heutigen Staatspräsidenten und dessen Partei AKP – sowie Hochschulmitarbeiter, bei denen Verbindungen zur kurdischen Untergrundarmee PKK vermutet werden, wurden per Dekret entlassen, manche auch gleich ins Gefängnis gesteckt.

Kritische Geister weggespült

Die Gülenisten werden für den vereitelten Staatsstreich des Militärs vom 15. Juli vergangenen Jahres verantwortlich gemacht, die angeblich PKK-treuen Dozenten mindestens für die Verbreitung von Terrorpropaganda, wenn nicht gleich für die Vorbereitung von Anschlägen. Der Ausnahmezustand mit den großen Vollmachten für Staatschef Tayyip Erdoğan zielt gleichermaßen auf beide Gruppen ab. Regierungskritische liberale oder politisch links stehende Intellektuelle werden – so hat sich schnell erwiesen – ebenso von den Säuberungswellen hinweggespült, sofern die politische Führung nur einen Anlass finden kann: einen Tweet, die Unterschrift unter eine Petition, einen Zeitungsartikel.

Chad Kautzer, ein Philosophieprofessor an der Lehigh-Universität in Pennsylvania (das allein macht ihn bereits verdächtig in den Augen der türkischen Regierung: Fethullah Gülen lebt auf einem Anwesen in Pennsylvania), hatte sich schon vor dem Putschversuch und Ausnahmezustand für die türkischen Hochschullehrer engagiert; eine Tausendschaft von ihnen wird schon seit Jänner 2016 vom Staat verfolgt, weil sie die Petition "Akademiker für den Frieden" unterschrieben hatte, einen Aufruf, der die Verantwortung der PKK übersieht, aber die Regierung mahnt, die Militäroperationen in den mehrheitlich kurdischen Städten im Südosten der Türkei zu stoppen.

Kautzer legte in einem Interview mit dem türkischen Nachrichtenportal T24 den Sinn der Säuberungswellen an den Universitäten dar: "Das Ziel aller autoritären Herrscher ist es, ihre Kritiker vom 'Volk' zu trennen. Und so wiederholen sie immer wieder und wieder, dass Akademiker und Journalisten anders sind. Sie sind elitär oder, schlimmer noch, unter dem Einfluss ausländischer Mächte und deshalb Verräter."

Generationenlanger Schaden

Es werde vielleicht Generationen dauern, so sagte Kautzer voraus, bis der Schaden behoben sei, den Erdoğan nun an den Hochschulen in der Türkei anrichte. Ein Dutzend Universitäten sind seit Sommer vergangenen Jahres geschlossen worden, rund 60.000 Studenten in der einen oder anderen Weise betroffen – Prüfungen und Examensarbeiten sind verschoben, Professoren oder die ganze Uni weg.

So wichtig ist Erdoğan die Kontrolle über die Entwicklung der Universitäten, dass er sich in einem seiner Notstandsdekrete das Recht gab, Rektoren direkt selbst auszuwählen – ohne Vorentscheidung des Hochschulpersonals wie bisher. Sein erstes Exempel statuierte der Staatspräsident vergangenen November an der Bosporus-Universität in Istanbul: Erdoğan ersetzte die gewählte liberale Rektorin Gülay Barbarosoğlu durch den Biologieprofessor Mehmet Özkan, den Bruder einer AKP-Abgeordneten. Neben Polizei und Justiz ist der Bildungsbereich der zentrale Schauplatz politischer Säuberungen und der Gleichschaltung geworden.

Die Heranziehung einer "gläubigen Generation" sei das Ziel, gab Tayyip Erdoğan schon vor fünf Jahren, in einer Rede im Februar 2012, zu. Der Vorstoß des ehemaligen Verteidigungs- und jetzigen Bildungsministers İsmet Yılmaz, die Evolutionstheorie aus dem Lehrplan der Schulen zu nehmen, ist deshalb nur das Zeichen einer viel weiterreichenden Umordnung von Wissenschaft und Bildung in der Türkei. Der vereitelte Putsch hat hier wie bei dem von Erdoğan angestrengten Verfassungswechsel die Dinge nur beschleunigt.

Evolutionstheorie veraltet, Religion aktuell

"Veraltet" sei Darwins Theorie von der natürlichen Auslese, so entschied dieser Tage der türkische Regierungssprecher und Vizepremier Numan Kurtulmuş, ein populärer konservativer Islamist. Die Evolutionstheorie sei nichts, was man Kindern erklären könne, sagt Yusuf Tekin, der Staatssekretär im Bildungsministerium. An den Schulen ist der Islam dafür sehr viel wichtiger geworden: Innerhalb von fünf Jahren hat sich die Zahl der Imam-Hatip-Gymnasien fast verdreifacht; mehr als eine halbe Million türkischer Jugendlicher geht dort nun in den Unterricht. An den Universitäten setzt sich diese Entwicklung fort.

Populismus und antiintellektuelle Haltung nähren heute die regierenden konservativen Islamisten, stellte Melek Zorlu in einem Beitrag über das Feindbild ODTÜ, die Middle East Technical University in Ankara, in der Revue "Praksis" fest. Erdoğan ließ bereits eine Akademie der Muchtars ins Leben rufen. Die Ortsvorsteher sind sein bevorzugtes Publikum. (Markus Bernath, 10.2.2017)