"Obama ist nicht schwarz" behauptete die afroamerikanische Autorin Debra Dickerson kurz nachdem Barack Obama Anfang 2007 seine Präsidentschaftskandidatur bekannt gegeben hatte – und "eine Mehrheit der Schwarzen", sekundierte damals das deutsche Magazin "Der Spiegel", "scheint diese Meinung zu teilen. In einer aktuellen Umfrage der Washington Post unter Afroamerikanern unterstützen 60 Prozent die weiße Parteirivalin Obamas, Hillary Clinton. Obama selbst kam bei den Schwarzen dagegen nur auf 20 Prozent [...] Dieses Phänomen erklärt sich dadurch, dass in den USA [...] unter Schwarzen die Bezeichnung 'schwarz' nicht allein die Hautfarbe beschreibt. Sondern viel mehr: Kulturerbe, Herkunft, Philosophie, Sprache. Dickerson zieht die Linie glasklar: 'Schwarz heißt in unserer politischen und sozialen Realität, dass jemand von westafrikanischen Sklaven abstammt.'"

Gute eineinhalb Jahre später berichtete "Salon", das selbe Online-Magazin, in dem Dickerson Obama das "Schwarz-Sein" abgesprochen hatte, über folgende Episode:

"We’re voting for the nigger"

"Ein Mann fragt beim canvassing [der Stimmenwerbung] für Obama im westlichen Pennsylvania eine [weiße] Hausfrau, welchen Kandidaten sie wählen würde. Sie brüllt ins Haus, um es herauszufinden. Der Mann im Inneren des Hauses brüllt zurück: 'we're voting for the nigger!' ['Wir wählen den Nigger!']. Woraufhin sich die Hausfrau dem Stimmenwerber zuwendet – und die Aussage ihres Mannes in aller Ruhe wiederholt."

Jenen beiden Rassisten, der Hausfrau und ihrem Mann, ist es herzlich egal, ob Obama von westafrikanischen Sklaven abstammt oder nicht. Der Sohn einer weißen US-amerikanischen Mutter und eines kenianischen Vaters ist für sie genauso ein "nigger" wie ein aus Nigeria eingewanderter Taxifahrer, auch wenn sie – aus welchen Gründen auch immer – bereit sind, diesmal einen "nigger" zum Präsidenten zu wählen.

Michelle und Barack Obama bei der Angelobung von Präsident Trump.
Foto: APA/AFP/JIM WATSON

Dieser brutalen, fremdbestimmten und gleichmacherischen Identifizierung ("nigger ist nigger") versucht Debra Dickersens Rede von "Schwarz heißt, dass jemand von westafrikanischen Sklaven abstammt" eine selbstbestimmte Identifizierung entgegenzusetzen, indem sie sich und "ihr eigenes Kollektiv" als Nachfahren westafrikanischer Sklaven zu identifizieren versucht. Oder anders: Dickersen setzt der Identifizierung durch den rassistischen Feind eine – selbstgewählte – Identität entgegen.

Erstaunlicherweise – und entgegen der vom "Der Spiegel" zitierten Umfrage – stimmten am 4. November 2008 nicht 20 sondern 95 Prozent aller schwarzen Wähler für Obama, einschließlich jener schwarzen Wähler, die wie Debra Dickersen ihre Identität auf ihre Abstammung von westafrikanischen Sklaven gründen. Zwar dürften jene "Westafrikaner" Obama selbstverständlich nicht nur aufgrund seines Schwarz-Seins (oder trotz seines angeblichen "Nicht-Schwarz-Seins") gewählt haben, wir sind aber dennoch mit dem seltsamen Befund konfrontiert, dass am 4. November 2008 nicht die Identität als Nachfahre westafrikanischer Sklaven ausschlaggebend gewesen ist, sondern die gleichmacherische Identifizierung durch die Rassisten – die zwischen Obama und den "Westafrikanern" keinen Unterschied macht.

Der Weihnachtsbaum verwandelte sich nicht ...

Der Schriftsteller und Widerstandskämpfer Jean Améry war ein Kleinkind als sein jüdischer Vater als Tiroler Kaiserjäger im Ersten Weltkrieg fiel. Er wurde dann von seiner katholischen Mutter erzogen. 1938, nach dem Anschluss Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland, floh er mit seiner jüdischen Frau aus Wien nach Belgien, wo er 1940 von den Nazis festgenommen und in einem südfranzösischen Lager interniert wurde. 1941 gelang ihm die Flucht. Zurück in Belgien schloss er sich einer Widerstandsgruppe an. 1943 wurde er erneut verhaftet und im Lager Breendonk schwer gefoltert. 1944 wurde er nach Ausschwitz und in weiterer Folge nach Buchenwald und Bergen-Belsen deportiert. Als er schließlich befreit wurde, war seine Frau, um derentwillen er in jenen Konzentrationslagern "zwei Jahre lang die Lebenskräfte wach gehalten hatte"¹, nicht mehr am Leben.

Zwanzig Jahre später begann Améry das Unbewältigbare jener Erlebnisse im literarischen Essayband Jenseits von Schuld und Sühne schreibend zu bewältigen.

"... als ich 1935 in einem Wiener Café über eine Zeitung saß und die eben drüben in Deutschland erlassenen Nürnberger Gesetze studierte [...] brauchte [ich] sie nur zu überfliegen und konnte schon gewahr werden, daß sie auf mich zutrafen. Die Gesellschaft, sinnfällig im nationalsozialistischen deutschen Staat, den [...] die Welt als legitimen Vertreter des deutschen Volkes anerkannte, hatte mich soeben in aller Form [...] zum Juden gemacht [...] Ich war, als ich die Nürnberger Gesetze gelesen hatte, nicht jüdischer als eine halbe Stunde zuvor. Meine Gesichtszüge waren nicht mediterran-semitischer geworden [...] der Weihnachtsbaum hatte sich nicht magisch verwandelt in den siebenarmigen Leuchter. Wenn das von der Gesellschaft über mich verhängte Urteil einen greifbaren Sinn hatte, konnte es nur bedeuten, ich sei fürderhin dem Tode ausgesetzt. Dem Tode. Nun, dem gehören wir allen an, über kurz oder lang. Aber der Jude, als der ich durch Gesetzes- und Gesellschaftsbeschluß jetzt dastand [...], dessen Tage waren eine zu jeder Sekunde widerrufbare Ungnadenfrist [...] ich [bin] gewiß, daß ich in [...] diesem Augenblick der Gesetzeslektüre [...] das Todesurteil schon vernahm, und dazu gehörte ja auch keine besondere Geschichtsempfindlichkeit [...] Ich hatte [...] in diesen Tagen [einmal] in einer illustrierten Zeitung das Photo einer Winterhilfsveranstaltung in einer rheinischen Stadt gesehen, und da prangte im Vordergrund, vor dem elektrisch strahlenden Lichterbaum ein Spruchband [...] 'Keiner soll hungern, keiner soll frieren, aber die Juden sollen krepieren...'"²

... in den siebenarmigen Leuchter

Die von den Nationalsozialisten beherrschte Gesellschaft hatte also Améry in diesem Augenblick "zum Juden gemacht". Die Nürnberger Rassengesetze definierten akribisch, anhand der Kriterien Abstammung, konfessionelle Zugehörigkeit und Ehe, ob jemand als Jude galt, als jüdischer Mischling ersten oder zweiten Grades, oder als "deutschblütig". Améry galt, weil er zwei jüdische Großeltern besaß und mit einer Jüdin verheiratet war als "Volljude": Die jüdische Identität wurde hier also gesetzlich konstruiert.

Aber: "Wenn Jude sein heißt", schreibt Améry an einer anderen Stelle, "mit anderen Juden das religiöse Bekenntnis zu teilen, zu partizipieren an jüdischer Kultur und Familientradition, ein jüdisches Nationalideal zu pflegen, dann befinde ich mich in aussichtsloser Lage. Ich glaube nicht an den Gott Israels. Ich weiß sehr wenig von jüdischer Kultur. Ich sehe mich, einen Knaben, Weihnachten zur Mitternachtsmette durch ein verschneites Dorf stapfen, ich sehe mich in keiner Synagoge. Das Bild des Vaters – den ich kaum gekannt habe [...] – zeigt mir keinen bärtigen jüdischen Weisen, sondern einen Tiroler Kaiserjäger in der Uniform des Ersten Weltkriegs."³

Identität denken wir gewöhnlich als etwas eigenes, uns zugehöriges, vertrautes – und bedeutsames. Glauben wir diese unsere Identität sei verschüttet oder gar verloren, fühlen wir uns aufgerufen, dieses Verschüttete oder Verlorene zu suchen: in den Tiefen unseres Selbst, in Erinnerungen oder in den Traditionen der Vorfahren.

Von all dem finden wir in Amérys Verhältnis zu "seinem" Jüdisch-sein nicht die geringste Spur. (Sama Maani, 28.2.2017)

Fortsetzung folgt.

¹ Jean Améry, Jenseits von Schuld und Sühne: Bewältigungsversuche eines Überwältigten, Stuttgart 1977, S. 77

² Ebd. S. 149 f.

³ Ebd. S. 131

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