Im Zahnstein dieses vollständig erhaltenen Gebisses eines Neandertalers aus dem heutigen Belgien wurde DNA von Wollnashörnern und Wildschafen entdeckt.

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Im Oberkiefer eines Individuums aus Spanien fanden sich hingegen keine Spuren von Fleischkonsum, dafür aber von Krankheiten, Heilpflanzen und Antibiotika.

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Kurt W. Alt, einer der Koautoren der Studie, ist Dental-Anthropologe an der Danube Private University in Krems an der Donau.

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Adelaide/Wien – Unser Bild von den Neandertalern hat sich in den vergangenen Jahren fundamental gewandelt: Im Gegensatz zur früheren Vorstellung eines primitiven Höhlenbewohners zeigt sich immer deutlicher, dass Homo neanderthalensis uns weitaus ähnlicher war als gedacht. Er bestattete Tote, feierte Feste, fertigte geschickt Werkzeuge, Waffen, Bauwerke und vermutlich sogar Schmuckstücke an.

Vor allem die Paläogenetik bringt immer mehr Details ans Licht: So weiß man mittlerweile, dass es zu Vermischungen von Neandertalern und modernen Menschen kam und heutige Europäer zwischen 1,5 und vier Prozent Neandertaler-DNA in sich tragen. Manche dieser Gene beeinflussen uns noch heute, wie zahlreiche Studien der jüngeren Vergangenheit zeigten. Was das Ernährungsverhalten der Neandertaler und ihren Umgang mit Krankheiten betrifft, ist die genetische Datenlage aber noch relativ dünn. Nun legt ein internationales Forscherteam im Fachblatt "Nature" eine neue Studie vor, die Einblicke in die regional erstaunlich unterschiedlichen Lebensweisen dieser Menschen bietet.

Mikrobielle Archive

Die Wissenschafter um Laura Weyrich und Alan Cooper von der australischen Universität Adelaide untersuchten dafür Zähne von insgesamt fünf Neandertalern, die in Höhlen in Belgien, Spanien und Italien gefunden worden waren. Genauer gesagt analysierten sie den Zahnstein, den diese Funde noch enthielten, und sequenzierten daraus DNA.

"Im Zahnstein werden Bakterien und Nahrungsreste eingeschlossen und konserviert", sagt Kurt W. Alt zum STANDARD. Der Dental-Anthropologe, seit 2011 an der Danube Private University in Krems tätig, ist einer der Koautoren der Studie. Die untersuchten Zähne, die etwa zwischen 42.000 und 50.000 Jahre alt sind, seien in äußerst gutem Zustand, so Alt.

Unterschiedliche Speisepläne

Aus der im Zahnstein erhaltenen DNA konnten die Forscher rekonstruieren, was diese Neandertaler aßen und welche Bakterien sie im Mundraum aufwiesen. Das erlaubt auch Rückschlüsse auf ihren Gesundheitszustand. Vor allem die Fossilien aus Belgien und Spanien entpuppten sich als regelrechte Dentalarchive: Im Zahnstein der Neandertaler, die im heutigen Spy in Belgien lebten, fanden sich vorwiegend Spuren von Wollnashörnern und Wildschafen sowie von Pilzen.

Zum Erstaunen der Wissenschafter wiesen die Individuen aus der El-Sidrón-Höhle in Nordspanien hingegen überhaupt keine Hinweise auf Fleischkonsum auf, sondern lediglich Reste von Pinienkernen, Moosen und Pilzen. Auf einen rein vegetarischen Lebensstil der spanischen Gruppe könne man aus den vorliegenden Daten zwar nicht schließen, sagt Alt: "Wir haben uns jetzt nur mit dem Zahnstein beschäftigt – mithilfe von Isotopenuntersuchungen wird man das Ergebnis weiter verfeinern können." Die Funde verdeutlichen jedoch, dass die regionalen Unterschiede im Lebensstil der Neandertaler groß waren.

Zudem fanden die Forscher heraus, dass einer der spanischen Neandertaler in seinen letzten Lebensjahren an mehreren Erkrankungen gelitten haben muss: In seinem Zahnstein fanden sich Spuren eines Erregers, der chronische Magen-Darm-Entzündungen verursacht. Zudem hatte er einen Zahnabszess, der ihm große Schmerzen bereitet haben dürfte.

Schmerzstillende Pflanzen

Doch die eigentliche Überraschung war eine andere Entdeckung. Die Auflagerungen dieses Individuums beinhalten nämlich auch Hinweise auf eine Selbstmedikation: DNA-Spuren von Pappeln, deren Blätter und Rinde Verbindungen der schmerzstillenden Salicylsäure enthalten, die heute in etlichen Medikamenten genützt wird, legen einen gezielten Konsum nahe. Außerdem konnte bei dem Kranken, und ausschließlich bei diesem, auch ein antibiotischer Pinselschimmel nachgewiesen werden.

"Das könnte natürlich auch ein Zufall sein", sagt Alt. "Aber es passt auch gut zu diesem Individuum, das ganz offensichtlich krank war. Was wir aufzeigen konnten, wirft jedenfalls neue Fragestellungen für weitere Forschungen auf. Wer hätte noch vor fünf Jahren gedacht, dass man mit der Analyse von Zahnstein so etwas machen kann?" (David Rennert, 8.3.2017)