Das Mobiltelefon wird zum virtuellen Arzt – zumindest deuten technische Entwicklungen darauf hin.

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Als Steve Jobs vor zehn Jahren das erste iPhone vorstellte, konnte er nicht ahnen, dass das Gerät einmal zu einer mobilen Arztpraxis wird. Mittlerweile bieten zahlreiche Smartphone-Applikationen Onlinesprechstunden an. Das Londoner Start-up Babylon Health hat etwa eine App entwickelt, die Patienten an einen vom staatlichen National Health Service (NHS) zugelassenen Arzt vermittelt.

In der App gibt der Benutzer seine Beschwerden ein und wählt den gewünschten Arzt (Allgemeinmediziner oder Spezialist) aus. Kurze Zeit später wird er mit dem Mediziner verbunden, der sich per Audio- oder Videokonferenz aufs Smartphone schaltet. Statt von Husten und Fieber gepeinigt in die Arztpraxis zu fahren und eine Verschleppung der Krankheit zu riskieren, kann der Patient schonend vom Krankenbett aus seine Beschwerden schildern. Gewiss ersetzt die Ferndiagnose keine Konsultation vor Ort, doch der Mediziner kann eine vorläufige Indikation erstellen. Wenn man ein Rezept oder ein ärztliches Attest benötigt, wird dies direkt an die Apotheke beziehungsweise den Arbeitgeber geschickt.

Die Idee hinter diesen Apps ist simpel: Das Smartphone konsultiert man viel häufiger als den Arzt. Schätzungsweise 100-mal am Tag. Warum zum Arzt gehen, wenn die Expertise über das Handy abrufbar ist? Babylon Health will aber mehr sein als ein webbasierter Symptom-Checker. Das Start-up, das über 100 Forscher beschäftigt, hat einen Chatbot entwickelt, der rund um die Uhr automatisiert Fragen von Patienten beantwortet.

Robo-Doc stellt Diagnose

Der virtuelle Assistent wurde mit massenhaft Daten über Symptome gefüttert und von über 100 Ärzten akkreditiert. Wenn man den virtuellen Arzt fragt, was man gegen Bauchschmerzen tun kann, antwortet er im Chatverlauf: "Haben Sie sich kürzlich am Magen verletzt?" So entsteht ein Dialog, in dem der Robo-Doc am Ende eine Diagnose stellt. Die Expertise, die Babylon anbietet, basiert auf Milliarden Datenpunkten, die aus tausenden Onlinekonsultationen seit dem Launch gesammelt wurden. Und je mehr der Algorithmus dazulernt, desto präziser werden seine Analysen.

Die Diagnosen sollen laut Babylon Health eine Genauigkeit von 92 Prozent haben. Der Artificial-Intelligence-Arzt verwandelt das Smartphone in eine mobile Arztpraxis, die von überall auf der Welt mit einer funktionierenden Internetverbindung besucht werden kann. Das Gesundheitswesen steht damit vor einer der größten Revolutionen.

Der Doktor in der Tasche

Das Londoner Start-up Your MD will mithilfe künstlicher Intelligenz Krankheiten erkennen. Dazu wurde ein neuronales Netzwerk mit Millionen Bildern einer Augenklinik gefüttert. Der Algorithmus soll Muster in Krankheitsbildern identifizieren und selbstständig den Verlauf von Augenerkrankungen erkennen. Ziel ist, dass Smartphone-Nutzer Fotos ihrer Augen einschicken und der Algorithmus dieses Bildmaterial auf Erkrankungen untersucht. Sollten Auffälligkeiten registriert werden, meldet sich der Chatbot: "Bitte gehen Sie zur Vorsorge!"

Auch der chinesische Suchmaschinenanbieter Baidu bietet einen medizinischen Chatbot an, der Fragen beantwortet und Sprechstunden vermittelt. Auf dem Smartphone sind mehr gesundheitsrelevante Daten vorhanden als in jeder Krankenakte. Die App Babylon Health ermöglicht Nutzern, Aktivitäten und Körperfunktionen wie Herzschlag und Blutdruck zu tracken und das Gerät mit Fitnesstrackern zu synchronisieren. Der Nutzer kann seine Hormon- und Cholesterinwerte messen und diese Werte via App an den Arzt schicken.

Das Start-up Clincloud hat ein Stethoskop entwickelt, mit dem der Nutzer Herz- und Lungendaten seiner Kinder in medizinischer Diagnosequalität aufzeichnen und diese per Cloud oder Mail mit dem Arzt teilen kann. Der Doktor kann Patienten so drahtlos den Puls fühlen. Der britische Gesundheitsdienst NHS fördert überdies ein Start-up namens Cupris Health, das einen Aufsatz entwickelt hat, mit dem das Smartphone zu einem Otoskop zur Untersuchung des äußeren Gehörgangs und das Trommelfells wird. Das Handy mutiert damit nicht nur zum Doktor in der Tasche, sondern auch zum mobilen Werkzeugkasten für Ärzte.

Datenschutzprobleme

Das Problem ist jedoch, dass der Patient durch die Digitalisierung der Gesundheitsvorsorge immer gläserner und auslesbarer wird. Muss ein Patient eine höhere Versicherungsprämie bezahlen, weil er weniger Schritte geht und das Smartphone ihn wegen seines Bluthochdrucks als Risikopatienten ausweist? Wo landen die Gesundheitsdaten? Wie sicher sind sie vor Hackerangriffen?

Medizinische Datenbanken sind in der Vergangenheit schon häufiger ins Visier von Cyberkriminellen geraten. 2015 wurden bei einem Hack auf die US-Versicherer Anthem und Premera Blue Cross Gesundheitsdaten von 90 Millionen Patienten gestohlen. So nützlich Robo-Ärzte und mobile Sprechstunden für das Gesundheitswesen sind, so sehr stellt die Technik den Solidargedanken und die Privatsphäre vor eine ernsthafte Belastungsprobe. (Adrian Lobe, 13.3.2017)