In der Forschung über nukleare Waffen gibt es den Begriff des "nuklearen Orientalismus". Damit ist gemeint, dass Staaten, die nicht dem westlichen Kulturkreis angehören, angeblich weniger verantwortungsvoll, sogar irrational mit Nuklearwaffen umgehen. Besonders häufig wird dieser Vorwurf gegenüber Nordkorea erhoben. Das Land des Kim Jong-un, dem Enkel des Staatsgründers, sei von einer irrationalen Führung gelenkt, die Nuklearwaffen offensiv und – gleichsam einer irrationalen Logik folgend – haltlos einzusetzen bereit sei.

Es ist nicht zu leugnen, dass die nordkoreanische Führung diesen Eindruck bewusst erwecken will, um als unberechenbar und zu Allem entschlossen zu erscheinen. Es gibt allerdings keine Belege, dass ein mit einsetzbaren Nuklearwaffen ausgestattetes Nordkorea, diese nicht, wie andere Staaten auch, zur Abschreckung einsetzen würde, nicht aber als tatsächliche Waffe in einem kriegerischen Erstschlag.

Besitz von Nuklearwaffen ist rational begründet

Es gibt allerdings viele rationale Gründe, warum Nordkorea den Besitz einsetzbarer Nuklearwaffen anstrebt. Das oberste Ziel der nordkoreanischen Führung ist die Sicherheit des Regimes. Libyen und Irak haben gezeigt, dass der Verzicht auf ein Nuklearwaffenprogramm ausländische Interventionen, die darauf abzielten, die Regierung zu stürzen, begünstigt haben. Die intensiven Bemühungen Nordkoreas, ein Arsenal an nuklearen Sprengsätzen und Trägersysteme für miniaturisierte nukleare Sprengköpfe aufzubauen, dient daher der Absicherung der Herrschaft der Kim-Dynastie.

Wie weit Nordkorea bei der Miniaturisierung der Sprengköpfe – also der Fähigkeit, die nuklearen Sprengköpfe soweit zu verkleinern, dass sie an Raketen unterschiedlicher Reichweite angebracht werden können – fortgeschritten ist, ist öffentlich nicht bekannt. Der Schritt von nuklearen Tests bis zum nuklearen Sprengkopf ist technologisch sehr weit. Bekannt ist hingegen, dass das nordkoreanische Militär über leistungsfähige und effektive Kurz- und Mittelstreckenraketen verfügt, die Südkorea und Japan erreichen können. Ob Nordkorea tatsächlich erhebliche Fortschritte bei der Entwicklung einer Interkontinentalrakete (ICBM), die das Festland der USA bedrohen könnte, gemacht hat, ist hingegen unklar. Kim Jong-un hat in seiner Neujahrsansprache von einem baldigen Test einer ICBM gesprochen. Klar ist nur, dass Nordkorea bei Raketenantrieben deutliche Fortschritte erzielt hat.

Der unberechenbare Kim Jong-un droht immer wieder mit nuklearen Angriffen.
Foto: Apa/Afp/Ed Jones

Präemptive Schläge

Nordkoreas Führung hat zwar öffentlich mit einem nuklearen Erstschlag gedroht, aber das wohl vor allem, um den Eindruck des unverantwortlichen und unberechenbaren  Besitzers von Nuklearwaffen zu nähren. Militärisch vernünftig wäre das aber nicht, denn das würde mit einem massiven nuklearen Gegenschlag der USA beantwortet werden, der Nordkorea zerstören würde.

Als sicher aber kann die Bereitschaft der nordkoreanischen Führung angesehen werden, auf einen Angriff von außen nicht nur mit konventionellen Waffen zu antworten, sondern auch mit dem Ersteinsatz nuklearer Waffen. US-Außenminister Rex Tillerson hat vorige Woche in Beijing mit präemptiven Militärschlägen gegen Nordkorea gedroht, wenn dessen Nuklear- und Raketenprogramm ein "inakzeptables Ausmaß" erreichen sollte. Die Wiederaufnahme von Verhandlungen – bilaterale oder multilaterale – schloss er aus.

Präemptive Schläge können unterschiedliche Ausmaße annehmen – von der Zerstörung von Abschussvorrichtungen, über einen Enthauptungsschlag gegen die nordkoreanische Führung  bis hin zum Versuch, das nukleare und ballistische Material völlig zu zerstören. Letzteres könnte allein schon daran scheitern, dass nicht alle derartigen Ziele bekannt sind. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass Nordkorea nicht auch schon auf einen sehr begrenzten Schlag mit einem Vergeltungsangriff reagieren würde. Dabei wäre Nordkorea aus der Kriegslogik heraus geradezu dazu gezwungen, als erste Seite nukleare Waffen einzusetzen. Zum einen, weil das Land nur begrenzt zweitschlagsfähig ist; zum anderen, weil es mit einem Erstschlag zu erreichen versuchen wird, die USA zum Abbruch des Erstangriffs zu zwingen.

Verhandlungen bleiben alternativlos

Die Opfer eines nordkoreanischen nuklearen Ersteinsatzes wären die Bürger Japans und Südkoreas. Fraglich daher, ob deren Regierungen mit dem US-Konzept eines präemptiven Schlages einverstanden wären. Sich dabei auf die Schutzfunktion des derzeit in Südkorea errichteten Raketenabwehrsystems THAAD zu verlassen, wäre eine äußerst riskante Strategie. Gegen einen konventionellen Vergeltungsschlag Nordkoreas, in dessen Einzugsbereich sich Seoul befindet, nützt THAAD gar nichts.

Obamas Strategie der "strategischen Geduld", das heißt keine Verhandlungen ohne Vorleistungen Nordkoreas bei der Denuklearisierung und Cyber-Operationen gegen seine militärischen Einrichtungen, ist wirkungslos geblieben. Sanktionen scheiterten bisher immer an der konsequenten Umsetzung durch China. Militärische Angriffe sind mit einem nicht vertretbaren Eskalationsrisiko verbunden. An Verhandlungen – ohne Erfolgsgarantie – führt daher kein Weg vorbei. (Gerhard Mangott, 27.3.2017)

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