Gewiss, die Rechtspopulistin Marine Le Pen zieht nicht als Erstplatzierte in die Stichwahl in zwei Wochen, und sie hat kaum Chancen, gegen den Parteilosen Emmanuel Macron tatsächlich eine Mehrheit zusammenzubringen. Nach menschlichem Ermessen wird die Kandidatin des Front National kaum in der Lage sein, ihren Stimmenanteil von 7,6 Millionen (am vergangenen Sonntag) bis zum 7. Mai auf 18 Millionen Stimmen zu erhöhen.

Das war allerdings schon vor dem ersten Wahlgang klar gewesen. Trotzdem legte die Pariser Börse am Montag stark zu, und trotzdem schreibt Bild, die selbsternannte Stimme Deutschlands, schon jetzt, Europa könne "aufatmen".

Aufatmen? Wenn, dann nur kurzfristig. Tatsache ist, dass in Frankreich, der Wiege der Menschenrechte und der europäischen Idee, heute xenophobe EU- und Globalisierungs gegner den Ton vorgeben. Le Pen hat die beiden Parteien, die seit 1958 das Leben der Fünften Republik abwechselnd bestimmten – die Republikaner und die Sozialisten –, auf die Ränge verwiesen. Und das geschah nicht so überraschend wie 2002, als ihr Vater Jean-Marie Le Pen in den zweiten Wahlgang vorstieß, sondern nach kontinuierlichem, jahrelangem Aufstieg des Front National zur stärksten Partei Frankreichs – zumindest in den Umfragen.

Stunde der Populisten

Das hat auch seine guten Gründe: "Nichts von dem, das Marine Le Pen möglich gemacht hat, wurde wirklich angegriffen oder bekämpft", meinte am Montag der Philosoph Michel Onfray. Die französische Politelite vernachlässigt nach wie vor all die Millionen von Ausgegrenzten, Arbeitslosen und Globalisierungs verlierern – und die Europäische Union hat bisher auch nicht die demokratische Antwort gefunden, die sie nach der Brexit-Entscheidung der Briten versprochen hatte.

Einfach gesagt: Auch wenn Le Pen nicht in den Élysée-Palast einziehen dürfte, sind die Ursachen, die ihr und all den anderen Populisten in Europa so viel Auftrieb verleihen, keineswegs überwunden. Das Pariser Linksblatt "Libération" kommentierte am Montag, die von Charles de Gaulle gegründete Fünfte Republik sei in einem Zustand "beunruhigender Fragilität". Das ganze Verfassungssystem beruht auf der starken Stellung des Staatspräsidenten. Doch seine Legitimität wird nun von Anfang an schwach sein: Der Bestplatzierte, Emmanuel Macron, erhielt im ersten Wahlgang nicht einmal ein Viertel der Stimmen – bedeutend weniger als vor fünf Jahren François Hollande, dessen Amtszeit ein einziger Kreuzweg war. Macron wird zudem dem Vorwurf ausgesetzt sein, den zweiten Wahlgang nur dank eines republikanischen Schulterschlusses gegen Le Pen, so wie Jacques Chirac 2002, fast "automatisch" gewonnen zu haben. Doch schon Chirac war danach kaum mehr handlungsfähig.

Die "Souveränisten" von rechts bis links – das heißt von Le Pen bis Jean-Luc Mélenchon – werden von Beginn an gegen den neuen Herrscher im Élysée mobilisieren. Vonseiten der Republikaner und Sozialisten, die noch monatelang mit sich selbst beschäftigt sein werden, hat er nicht viel Hilfe zu erwarten. Solange die Strukturschwächen Frankreichs (Arbeitslosigkeit, Agrarkrise) und der EU (Demokratiedefizit, Euro-Spannungen) nicht behoben sind, werden Le Pen und Konsorten leichtes Spiel haben. Nach der Wahl von Sonntag kann Europa keineswegs Sturmentwarnung geben. (Stefan Brändle, 24.4.2017)